Kinder müssen so früh wie möglich ihr Urteilsvermögen üben. "Mehr Werte" soll die Schule vermitteln, wird oft gefordert. Aber welche?
Von Walter Schmidt
„Kinder brauchen Werte“, lautet das Motto einer Initiative des Bundesfamilienministeriums – ganz so, als gelte es, gegen einen akuten Mangel anzugehen. Nicht nur das Ministerium, auch zwei Drittel der Deutschen meinen, dass Kinder heute „zu wenig Werte“ vermittelt bekommen, fand eine Allensbach-Umfrage im vergangenen Jahr heraus. Aus Sicht vieler Deutscher „zerfallen“ Orientierungen zunehmend. Pädagogen werden deshalb immer wieder aufgefordert, den Werteschwund in den Schulen aufzuhalten. Anders als das verbreitete Gefühl es will, mangelt es heute jedoch keineswegs mehr an Werten als früher, wie Jürgen Rekus, Pädagogik-Professor an der Universität Karlsruhe sagt. Im Gegenteil: „Das Problem besteht eher darin, dass es eine Fülle von Werten gibt, die in Konkurrenz zueinander stehen.“
Werte können überhaupt nicht zerfallen, sagt auch Volker Ladenthin, Professor für Erziehungs-wissenschaft an der Universität Bonn. Bestimmte Werte würden lediglich nicht mehr „angewählt“, also zur Grundlage des Handels gemacht. Wer etwa darauf vertraut hat, als Bankkauffrau eine sichere Laufbahn eingeschlagen zu haben, dann aber arbeitslos wird, der orientiert sich fortan nicht mehr an „Verläss-lichkeit“, sondern an anderen Werten. Der Wert „Verlässlichkeit“ bleibe also bestehen – er werde nur nicht mehr angewählt, weil er sich in der Realität als untauglich erwiesen habe, erklärt Ladenthin.
„Wer glaubt, nur ein einziges, eng definiertes Ensemble von Werten, Tugenden oder Normen habe Anspruch auf unbedingte Geltung oder Richtigkeit, der muss angesichts der Konkurrenz durch andere Wertangebote und Wertvermittler konsequenterweise vom Werteverfall sprechen“, sagt der Bonner Philosophie-Praktiker Markus Melchers. In modernen Gesellschaften existierten hingegen konkurrierende Wertangebote. Statt von „Wertezerfall“ müsse deswegen von „Wertepluralismus“ gesprochen werden – und der sei „ein wichtiges Kennzeichen demokratischer Gesellschaften“. Für Volker Ladenthin gilt deshalb: „Die Schule soll nicht zu Werten erziehen.“ Denn welche sollten das in einer pluralistischen Gesellschaft auch sein? Wertekonflikte sind im Wertepluralismus unvermeidbar. „Der eine trägt Hose mit Bügelfalte, der andere Jeans. Was ist richtig?“ sagt auch Jürgen Rekus. Wenn eine Gesellschaft sich wandelt, dann ändern sich auch jene ihrer Vorstellungen, die allgemein als wünschenswert gelten und den Gruppenmitgliedern Orientierung beim Denken und Handeln geben.
Soziologen stellen fest, dass sich die Werteskala verschiebt – weg von traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten wie etwa Ordentlichkeit zu sogenannten Selbstentfaltungswerten. Einem davon geleiteten Menschen gehe es um selbstbezogene Bedürfnisse, „er will sich einbringen, aber nicht um einer Sache oder Situation wegen, sondern um seiner selbst willen“, sagt Rekus. In einer Zeit des Wertewandels müssen sich Lehrende fragen, wie sie Kindern am besten dabei helfen können, eigene und belastbare Moralvorstellungen herauszubilden. Erstrebenswert sei deshalb eine „Erziehung zum Werten“, also letztlich die Fähigkeit zu Werturteilen: „Der Unterricht soll die Schüler befähigen, sich mit unterschiedlichen Wert-vorstellungen auseinanderzusetzen und sich bewusst zu entscheiden, sie anzunehmen oder abzulehnen“, fügt Ladenthin hinzu. Dies sei „eine Aufgabe, die alle Fächer betrifft“ – also auch die Mathematik und den Sportunterricht.
Dass Eltern oder Politiker an Lehrer so oft die Forderung oder doch zumindest den Wunsch herantragen, dem Nachwuchs Werte zu vermitteln, hat für Ladenthin eine zentrale Ursache: „Die traditionellen Institutionen brechen zusammen. Es gibt keine für alle verbindlichen Lebensgewohnheiten, Sitten mehr.“ In einer hoch ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es plurale Lebensformen – selbst in jeder Familie, sagt Ladenthin. Nur zu verständlich also, dass die Menschen nach einem Halt suchen. Doch sie täten es vergebens. „Denn jeder Wert, den man nun propagiert, vermehrt doch die Wertevielfalt.“ Und diese sei ja gerade das Problem, das man angehen möchte. Werte gäben keinen Halt, „sie bedürfen vielmehr einer Halterung – Lebenssinn genannt“.
Wer über das Bewerten von Meinungen, Vorbildern und Ereignissen zu eigenen Werturteilen gelangen darf, verankert diese viel eher, als es das Verinnerlichen von Wertvorgaben schaffen kann. „Werterziehung in der Schule heißt, über den Wert des Gelernten zu sprechen. Und dafür muss Zeit bleiben“, fordert Volker Ladenthin. Wenn etwa Chemieschüler fragen: „Warum müssen wir etwas über Stickstoff lernen?“, könnte der Lehrer entgegnen: „Weil er als Grundlage für Dünger dient – und so Hungersnöte verhindern hilft.“ „Lernen heißt werten“, merkt Ladenthin an.
Damit sollte am besten schon im Kindergarten begonnen werden – freilich nicht theoretisch und somit an den Kindern vorbei. „Deshalb werden Kindern diese Einsichten durch ein angeleitetes Zusammensein, wie selbstverständlich spür- und damit erfahrbar gemacht, und dies kann durchaus auf spielerische Weise geschehen“, sagt Markus Melchers. Zu dieser Wirklichkeit gehöre auch das Erleben von Menschen mit deren eigenen, womöglich fremd erscheinenden Werten. Mündige Bürger müssen das zeitlebens aushalten, im besten Falle begrüßen können. Zum Weiterlesen: Volker Ladenthin, Jürgen Rekus (Hg.): Werterziehung als Qualitätsdimension von Schule und Unterricht. Aschendorff Verlag, 2008. 207 Seiten, 14,80 Euro. Thomas Ebers, Markus Melchers: Wertgefechte. Eine Klarstellung. Merus-Verlag, Hamburg, 2008 |