Leben und Denken reflektieren, interpretieren und diskutieren 19.03.2024
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Sokrates auf Rädern, Süddeutsche Zeitung vom 20.01.2000
Der Bonner Philosoph Melchers berät in moralischen und anderen Fragen - als Extra-Service besucht er den Kunden zu    Hause. Von Walter Schmidt
Bonn - Klingelt bei Markus Melchers das Telefon, will niemand eine Pizza bestellen, sondern geistiges Futter. Da möchte in Elternpaar wissen, welche Werte es seinen Kindern vermitteln, ein anderes, ob es seinen Sohn taufen soll. Eine          Akademikerin fragt sich, ob zwei Staaten einander moralisch genau so verpflichtet sind wie zwei Menschen. Wenn          Melchers glaubt, er könne helfen, schwingt er sich aufs Rad und besucht den Kunden zu Hause. Oder er spaziert mit dem Wissbegierigen am Rhein entlang und setzt die Gedanken gehend in Fluss. "Philosophie findet nicht zwischen den Ohren statt, sondern dort, wo Menschen miteinander sprechen", sagt Melchers.
Der 36 Jahre alte frühere Philosophie-Student bietet seine Beratungen unter dem Slogan "Sinn auf Rädern" seit Anfang  1998 an. Er will ein Manko beseitigen helfen, das ihn schon an der Universität geärgert hat. "Philosophen reflektieren     gerne über das, was schon vor tausend Jahren gedacht worden ist, brechen es aber nicht auf unsere Zeit herunter",     bemängelt Melchers. Seiner Meinung nach fehlt in der Philosophie der Bezug zum richtigen Leben, den antike Denker wie Aristoteles in ihren öffentlichen Debatten routiniert herstellten.

Was das Gespräch wert ist

Oft konnten sie ihre Zeitgenossen damit verblüffen. Diesen Überraschungseffekt erreiche aber nur, wer verständlich          spreche und nicht in erster Linie versuche, "seine Zugehörigkeit zur Zunft der Philosophieprofessoren zu beweisen",        kritisiert der Wiener Philosoph und Buchautor Joachim Jung. So hat Melchers bereits während des Studiums versucht, die Philosophie auf dem Boden des Alltags zu lassen. Genutzt hat ihm das als einem von 22 600 Studierenden des Fachs zunächst nichts. Denn auch für ihn sah der Arbeitsmarkt eher schwarz aus. Nach Angaben der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie stehen der Zahl der Studenten nur etwa 2500 Stellen auf dem klassischen Arbeits markt gegenüber, also an Universität und Schulen. Allein im Wintersemester 1997/98 haben nach Auskunft der Hochschulrektoren-Konferenz fast 7300 Philosophie-Studenten ihre Prüfung absolviert. Melchers wollte nicht wie viele andere als Taxifahrer oder "billiger Lektor bei einem Verlag" sein Brot verdienen. Er muss sich also etwas überlegen. Seine Idee ernährt ihn allerdings noch nicht. Bisher ruft erst eine Hand voll Sinnsucher pro Monat an, und nicht mit jedem trifft sich Melchers, schon gar nicht mehrmals. Das Honorar vereinbart er frei: "Ich frage meine Kunden, was ihnen das Gespräch wert ist", sagt der radelnde Philosoph.
Um sein Konzept bekannt zu machen, veranstaltet er jeden Monat ein Philosophisches Café in Bonn, bei dem es um Fragen wie "Wann darf ich lügen?" geht es im tristen November um das Problem der Langeweile. Nach der Debatte        kreist der Klingelbeutel.           

"Heilen kann ich nicht"             

Eines ist Melchers besonders wichtig. Er will kein Therapeut sein. "Heilen kann ich nicht." So lehnt er auch weitere          Gespräche ab, "wenn das Problem ins Pathologische geht", der Kunde wirr redet oder bedenklich aggressiv zu sein          scheint. "Einsichtsfähig muss der Mensch zum Philosophieren schon sein", meint der Sinn-Radler. Darauf hatte seinerzeit schon Sokrates vertraut.     
      © Sinn auf Rädern/BelKom