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Auf den Spuren von Aristoteles und Co. Der Tagesspiegel vom 24.09.2000
Wer als Philosoph nicht als Taxifahrer enden will, muss Ideen entwickeln - und Chancen als Berater.
Von Walter Schmidt

Wenn bei Markus Melchers das Telefon klingelt, will niemand eine Pizza bestellen, sondern geistiges Futter. Da möchte ein Elternpaar wissen, welche Werte es seinen Kindern vermit-teln, ein anderes, ob es sein Kind taufen soll. Oder eine Akademikerin fragt sich, ob zwei Staaten einander moralisch genauso verpflichtet sind wie zwei Menschen. Wenn Melchers glaubt, er könne helfen, schwingt er sich auf sein Rad und besucht den Kunden zu Hause. Oder spaziert mit ihm am Rhein entlang und setzt die Gedanken gehend in Fluss. Melchers lebt in Bonn und ist Philosoph.
"Philosophie findet nicht zwischen den Ohren statt, sondern dort, wo Menschen miteinander sprechen", sagt der pfiffige Sinn-Kurier. Ein gewisses Niveau sei allerdings unverzichtbar, sagt der 37-Jährige. Er zählt sich nicht zu den bundesweit rund 50 Philosophen mit eigener Beratungspraxis, verfolgt aber einen ähnlichen Ansatz. Er bietet "Sinn auf Rädern" seit An-fang 1998 an und will so selber ein Manko beseitigen helfen, das ihn schon an der Uni geärgert hat: "Philosophen reflektieren gern über das, was schon vor tausend Jahren gedacht worden ist, brechen es aber nicht auf unsere Zeit herunter." Bei den "üblichen" Angeboten fehle "der Bezug zum richtigen Leben", den in der Antike Philosophen wie Aristoteles in ihren öf-fentlichen Debatten "routiniert hergestellt" und ihre Zeitgenossen damit "oft verblüfft" haben.

22600 STUDIERENDE - 2500 FREIE STELLEN

Was Philosophen heute noch unentbehrlich macht, versuchen zumindest die rund 22 600 Stu-dierenden des Fachs zu klären. Nach Angaben der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie stehen ihnen aber nur etwa 2500 Stellen auf dem klassischen Arbeitsmarkt gegenüber, also an Universitäten und Schulen. Wer nicht als Taxifahrer oder, laut Melchers, als "billiger Lektor bei einem Verlag" sein Brot verdienen möchte, muss sich also etwas überlegen.
Melchers glaubt an seine Idee, auch wenn sie ihn noch nicht ernährt. Bislang ruft erst  eine Hand voll Sinnsucher pro Monat an, und nicht mit jedem trifft sich Melchers.
Das Honorar vereinbart Melchers frei: "Ich frage meine Kunden, was ihnen das Gespräch wert ist", sagt der radelnde Philosoph. Um sein Konzept bekannter zu machen, veranstaltet er jeden Monat ein "Philosophisches Café", bei dem es um Fragen wie "Wann darf ich lügen?" geht oder - im tristen November - um "Langeweile". Nach der Debatte kreist der Klingelbeutel.

"HEILEN KANN ICH NICHT"

Melchers sieht sich dabei nicht als Therapeut: "Heilen kann ich nicht." Er lehnt weitere Gespräche ab, "wenn das Problem ins Pathologische geht", der Kunde wirr redet oder bedenklich aggressiv zu sein scheint. "Einsichtsfähig muss der Mensch zum Philosophieren schon sein."
Mehr Philosophie statt Psychologie im Leben der Menschen wünscht sich auch Gerd Achen-bach. Er hat bereits 1981 das Konzept der "Philosophischen Praxis" begründet und führt selber eine in Bergisch-Gladbach bei Köln. "Die meisten Probleme handeln sich Menschen nicht durch seelische Defekte ein, sondern durch Hoffnungen, Erwartungen, Ansichten", sagt der promovierte Philosoph und Lebensberater. "Die Ehe etwa ist nicht in der Krise, weil die Menschen seelische Mängel hätten, sondern weil wir von der Ehe so denken, wie wir von ihr denken." Alle Psychologie sei an der Psyche des Einzelnen orientiert und bringe eher den  "cleveren Egoisten" hervor. Freilich rate auch er manchen seiner Gesprächspartner, einen Therapeuten aufzusuchen, wenn ein Problem dort besser aufgehoben sei.
Achenbach geht anders als Melchers nicht zu seinen Kunden hin, sie kommen zu ihm - für den Bonner Sinn-Lieferanten undenkbar, da so ein "Gefälle" zwischen Philosoph und Kunde entstehe, das seine Arbeit behindere. Dennoch findet er Achenbachs Idee "phantastisch", weil dieser die Philosophie "wieder näher an die Menschen gerückt" habe.
Von einem klassischen Verständnis der Philosophie her bemüht sich Achenbach im Gespräch mit seinen Klienten "um ein gelingendes Leben". Viele seiner Kunden litten unter Problemen mit anderen oder sind "auf die falsche Lebensbahn geraten". Auffällig sei dies gerade bei Medizinern, "wo der Sohn Arzt geworden ist, weil Großvater und Vater das auch waren". Jetzt steckten die Doktoren "kreuzunglücklich in ihrem Beruf fest". Es geht in den Sitzungen eben auch darum, mutig eine neue Entscheidung zu fassen - so wie der hoch spezialisierte Ingenieur, der sich nach zig glücklosen Berufsjahren deprimiert und selbstmordgefährdet endlich entschloss, umzusatteln und Stuckateur zu werden.

HOCHSCHULLEHRER ALS BEDENKENTRÄGER

"Darauf kommen Menschen nicht alleine, dazu brauchen sie andere", urteilt Achenbach.
In seiner Praxis geht es oft um Themen wie Tod und Alter. "Zu mir kommen alte Menschen, die über den Tod sprechen wollen, aber mit Gottes Bodenpersonal irreparabel entzweit sind", berichtet er. "Die trauen Priestern kein neutrales Urteil zu." Zudem veranstaltet er Vorträge und philosophische Abende in seiner Praxis. Und Berufsberater laden ihn ein, um Gymnasiasten bei der Berufswahl zu unterstützen.
Natürlich gebe es Kritiker seines Praxis-Ansatzes, gerade unter Philosophen. Achenbach spart schließlich nicht mit Spott an der Hochschul-Philosophie und manchen Professoren. Unter den Bedenkenträgern seien "Leute, die wahrscheinlich ahnen: Wenn Sie einen Gesprächspartner fänden, mit dem sie philosophieren dürften, dann müssten sie dem sogar noch Geld bezahlen, damit er ihnen überhaupt zuhört und die Tortur erträgt". Doch obwohl sein Ansatz polarisiere, gebe es inzwischen auch viel Unterstützung
Der Vorstand der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie weise zwar die pauschale Kritik an den Philosophie-Dozenten zurück. Doch laut Achenbach werde dort überlegt, wie man die Lehrpläne für den Ansatz der Philosophischen Praxis öffnen könnte, schon um die Job-Chancen der Uni-Absolventen zu verbessern.
Der Geschäftsführer der  Allgemeinen Gesellschaft, der Stuttgarter Philosophieprofessor Christoph Hubig, begrüßt Achenbachs und Melchers Ansätze zwar, hät sie dennoch für eine "zweischneidige Sache". Schon Aristoteles habe das öffentliche Gespräch dem individuellen vorgezogen. "Es soll ja ein Abgleich unterschiedlicher Meinungen und Werte stattfinden", gibt Hubig zu bedenken. Es gelte die Regel: "Je öffentlicher, desto philosophischer."
Job-Chancen für die Philosophen sieht Hubig noch ganz woanders. Die Absolventen seines Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie, Technik- und Kulturphilosophie würden ihm "aus den Händen gerissen". Viele Unternehmen leisteten sich inzwischen nämlich "Spinnerecken" für Philosophen. Stabsabteilungen wie "Technik und Philosophie" seien keine Seltenheit mehr in großen Firmen. Hier und bei den Medien gebe es "einen großen Bedarf" an Philosophen, so-fern diese ein zweites fachliches Standbein hätten, etwa als Juristen oder Bankkaufleute.
Sonst verlören sie allzu leicht "freischwebend die Bodenhaftung".

      © Sinn auf Rädern/BelKom