Philosophen im Einsatz. Sinn auf Rädern, Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 13.04.2000 |
Ein Bonner Philosoph begibt sich mit seinen Kunden auf die Suche nach der Wahrheit – auf dem Fahrrad und gegen Stundenlohn Markus Melchers hat sich als Philosoph selbständig gemacht. Seit mehr als zwei Jahren bietet der 36-jährige Magisterabsolvent aus Bonn "Sinn auf Rädern" an. Gisa Funck fragte den modernen Sokrates, der – ökologisch korrekt – per Fahrrad oder Bahn zu seinen Kunden unterwegs ist, was ein ambulanter Philosoph leisten kann. SZ: Was ist Sinn auf Rädern? Melchers: Ich verstehe mich als praktischer Philosoph. Das heißt, ich versuche Lebensfragen mit dem Wissen der Philosophie zu beantworten. Im Gegensatz zu den stationär praktizierenden Kollegen besteht mein besonderer Service darin, zu meinen Kunden nach Hause oder einem Ort ihrer Wahl zu kommen. Durch die gewohnte Umgebung werden die Hemmschwellen abgebaut, die sofort spürbar sind, sobald das Wort Philosophie ausgesprochen wird. SZ: Apropos Hemmschwellen. Philosophie gilt als die klassische Elfenbeinturm-Disziplin. 22 000 junge Leute studieren dieses Fach derzeit in Deutschland, aber es werden fast keine Stellen für Philosophen angeboten. Melchers: Die akademische Philosophie hält tatsächlich nicht genügend Arbeitsplätze bereit. Dort werden die ausgefeilten wissenschaftlichen Debatten über den Bezug zwischen Theorie und Praxis geführt. Das Orientierungswissen, das die Philosophie seit ihren Anfängen begleitet, wird also reflektiert. Es wird aber nicht in den Alltag der Menschen getragen. Doch nur hier kann es wirksam werden und zur Geltung kommen. Meine Tätigkeit ist durch Letzteres gekennzeichnet. Die vergangenen zwei Jahre zeigen mir, wie wichtig eine Anbindung dieses Faches an die Lebenswelt ist. SZ: Inwiefern? Melchers: Die wachsende Individualisierung mündet oft in Vereinzelung. In existentiell wichtigen Situationen fehlen dann die Ansprechpartner, die unvoreingenommen reagieren können. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist der Manager, der nach Feierabend plötzlich das Pendel kreisen lässt, um sich Rat zu holen. Dies halte ich für eine bedenkliche Entwicklung in einer Gesellschaft, die auf der Einhaltung bestimmter Rationalitäts-Standards basiert. Eine andere philosophische These, dass sich Wahrheit erst im Prozess des Aushandelns verschiedener Geltungsansprüche zeigt, wird im täglichen Miteinander leider oft außer Acht gelassen. SZ: Treten Sie als ambulanter Philosoph in Konkurrenz zum Therapeuten oder Seelsorger? Melchers: Nein, da ist die Grenzziehung klar. Das philosophische Gespräch gelingt nur dann, wenn es gleichberechtigt geführt wird. Dies schließt ein Therapeut-Klient-Verhältnis per se aus. Am Anfang kam es zu ein paar Missverständnissen. Damals meinten neun von zehn Anrufern, mit mir über ihre lockeren Chakren sprechen zu können. Philosophie ist aber nicht Esoterik. SZ: Und was sind dann die Themen, die Sie besprechen? Melchers: Es gibt keine einheitliche Ausrichtung. Eine Frage war zum Beispiel, ob die Beziehung zwischen zwei Staaten auf ähnlich ethischen Verpflichtungen basiert wie die Beziehung zwischen Menschen. Oder ein Mann wollte von mir wissen, ob die vergewaltigte Marquise in Kleists Marquise von O. mitschuldig ist an ihrem Schicksal... SZ: Gehört das nicht eher in den Bereich der Literatur? Melchers: Ja, aber Philosophie macht nicht vor Fakultätsgrenzen Halt. Darum gehe ich bewusst interdisziplinär vor und empfehle etwa auch Thomas Manns Zauberberg als Lektüre, wenn sich jemand bei mir nach dem Phänomen der Zeit erkundigt. SZ: Können Sie denn alle Fragen beantworten? Melchers: Natürlich nicht, wer kann das schon? Ein Beispiel: Eine Autorin hat mich gefragt, ob rationallogisches Denken die Kreativität behindert. Nach einer Phase der Selbstverständigung, was denn Kreativität bedeutet, habe ich auf René Descartes verwiesen, der sinngemäß sagt, dass wir in unserer Phantasie oder Kreativität das Neue als Kombination des Alten bewegen. Die Phase der Selbstverständigung ist auch für mich die Zeit der Antwortsuche. Und Antworten suchen heißt, sie nicht zu haben. SZ: Und wie viel hat Ihnen die Autorin für diese Antwort bezahlt? Melchers: Meine Tarife sind frei verhandelbar, aber im Schnitt nehme ich für eine Stunde Gespräch 80 Mark. SZ: Warum gehen Sie nicht in die Wirtschaft und verkaufen Ihr Wissen wie einige Ihrer ehemaligen Kommilitonen für gutes Geld? Melchers: Als Philosoph möchte ich das Streben nach Erkenntnis, das ein menschliches Bedürfnis ist, wieder in die Gesellschaft hineintragen. Darum veranstalte ich jeden dritten Freitag im Monat hier in Bonn auch ein philosophisches Café, wo jeder – wie auf dem antiken Marktplatz – über Themen diskutieren kann, die von "Die Wahrheit liegt auf dem Platz" über "Langeweile" bis hin zu "Warum soll ich ehrlich sein?" reichen. Das schließt aber keineswegs meine Bereitschaft aus, auch in Wirtschaftsunternehmen mitzuwirken. Nur ist das Profil einer solchen Tätigkeit sehr unscharf, wenn nicht auf beiden Seiten das ehrliche Bemühen um ein philosophisches Gespräch besteht.
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