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Philosophie und Ethik in Deutschland; Goethe-Institut 05.11.2011

Liebe zur Weisheit – Philosophie boomt!
Irgendwie philosophieren wir alle ja ständig. Sobald wir darüber nachdenken, ob eine Handlung vertretbar oder gerecht ist, betreiben wir – wenn auch unprofessionell – praktische Philosophie. Sobald wir nach den Zielen unseres Tuns fragen, stellen wir alte philosophische Fragen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass er solche Fragen stellt.

Je nachdem, wie viel Mühe man sich bei solchem Nachdenken gibt, stößt man recht schnell auf Fragen, die nur schwer zu beantworten sind. Viele Menschen brechen dann das Denken zugunsten des Handelns ab – was einem im Leben oft weiterhilft. Anderen lassen aber gerade jene offenen Fragen einfach keine Ruhe. Sie wollen mehr darüber erfahren, lesen Bücher, teilweise auch klassische Werke der philosophischen Literatur. Solche Lektüre inspiriert zu neuem Fragen.

In Deutschland lässt sich seit einiger Zeit ein Trend beobachten: Immer mehr Menschen finden sich zum gemeinsamen Philosophieren zusammen. Und zwar nicht in den Seminarräumen universitärer Philosophie, sondern in Debattierzirkeln oder philosophischen Cafés. Wachsender Beliebtheit erfreuen sich auch entsprechende Angebote der Volkshochschulen sowie philosophische Sendungen in Fernsehen und Radio. Philosophie boomt! Eine erfreuliche Entwicklung angesichts der Klagen über eine grassierende Verdummung der Menschen. Vielleicht ja auch eine Reaktion auf die Seichtigkeit öffentlicher Kultur.

Es überrascht nicht (und enttäuscht doch viele), dass der Standesvertreter der Schulphilosophie da ein wenig die Nase rümpft: Das ist doch keine Philosophie! Diese Reaktion ist insofern verständlich, als jede Wissenschaft ihr Fach nun einmal nicht primär für ein Laienpublikum und in dessen Sprache betreibt. Den Naturwissenschaften billigt man das im Allgemeinen zu. Bei der Philosophie ist das ein wenig anders. Und das hat mit dem zu tun, wofür Philosophie eigentlich einmal stand …

Was ist Philosophie?

Philosophie heißt „Liebe zur Weisheit“. Weisheit gilt seit den Griechen als eine Tugend oder besondere Befähigung des Denkens. Weise Männer, das waren solche, die jenseits des unmittelbar Verwertbaren über die großen Fragen des Lebens Auskunft zu geben vermochten. Manchmal in etwas rätselhaften Worten, die nicht jedem verständlich waren.

Als Wissenschaft etabliert sich die Philosophie letztlich mit Platons Abgrenzung wahren Wissens vom bloßen Meinen der Leute. Philosophie erhebt Wahrheitsansprüche. Sie grenzt sich vom Mythos und den Traditionen kritisch ab. So sehr sie sich damit vom normalen Menschen entfernt, so unmittelbar praktisch bleibt bei Platon ihr Anspruch: Philosophie hilft, die Seele in Ordnung zu bringen. Noch deutlicher betont Aristoteles diesen Praxisbezug: „denn wir fragen nicht, um zu wissen, was die Tugend sei, sondern damit wir tugendhaft werden.“ Bis in die Aufklärung hält sich dieser Anspruch. Kant betreibt Philosophie in „weltbürgerlicher“ Absicht, und er macht dabei eine wichtige Unterscheidung: „Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d.i. einen absoluten Wert.“ Philosophie und moralischer Fortschritt gehen Hand in Hand.

Die Verwissenschaftlichung der Philosophie

In der Moderne beschleunigt sich indes die Verwissenschaftlichung der Philosophie, und das heißt in der Terminologie Kants: die Verengung auf ihren „Schulbegriff“. Das neue Selbstverständnis findet seinen markanten Ausdruck im Credo des „Wiener Kreises“: „Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt nur Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.“

In dieser Tradition steht auch die heute dominante analytische Philosophie. Fallen gelassen wurden auf diesem Wege einige der klassischen Fragen der Philosophie: nicht nur die alten Weisheitslehren, sondern auch die praktisch relevanten Fragen der Lebensorientierung. Wittgenstein hat dazu in seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) lakonisch notiert: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“ Und mit durchaus weiser Demut beendet er seinen Tractatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Deutungsangebote jenseits akademischer Philosophie

Universitäre Philosophie und wissensdurstiges Publikum haben sich auseinanderentwickelt. Das, worüber der interessierte Laie gerne „philosophiert“, betrifft zumeist genau jene Fragen, die für den Fachphilosophen eben dies nicht mehr sind: philosophische Fragen. Letztere kreisen entweder um Details der Klassikerexegese oder mathematisierte Modelle der Logik. Dem Deutungsbedürfnis der Menschen ist damit nicht geholfen. Dieses Bedürfnis ist nun aber ge-rade in der Moderne größer denn je. Unsere Zeit ist geprägt von einem Pluralismus der Werte, einem Verlust metaphysischer Gewissheiten und einer Entwertung der Tradition. Die moderne Zivilisation produziert laufend Folgen und Probleme, die schwierige ethische Fragen auf-werfen. Und neben diesen für die Moderne spezifischen Unsicherheiten gibt es natürlich noch den klassischen Kanon an existenziell wichtigen Fragen.

Für Antworthilfen und entsprechende Foren des Austauschs gibt es eine wachsende Nachfrage. Und weil die akademische Philosophie „schweigt“, drängen andere Anbieter in diese Lücke. In Debattierclubs und philosophischen Cafés findet ein reger gedanklicher Austausch statt, teilweise auf durchaus beachtlichem Niveau. Ebenso wächst das Angebot an entspre-chenden Sendungen und Beiträgen in Fernsehen und Radio. Auch einige Berufsphilosophen sind sich nicht zu schade, hier mitzuwirken. Beide Seiten können davon nur profitieren. Wenn das Laienpublikum dabei trotzdem ein Laienpublikum bleiben wird und sich die Hobby-Philosophen ihre geistige Welt recht bunt mit einer Mischung aus Epikur, Schopenhauer und Buddha ausstaffieren, tut dies der Sache letztlich keinen Abbruch. „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Für Kant war dies der „Wahlspruch der Aufklärung“. In den philosophischen Zirkeln der Republik wird er offenbar immer öfter befolgt.

Christian Schwaabe ist seit seiner Habilitation Lecturer für Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Autor u. a. des zweibändigen Studienbuchs „Politische Theorie“ (UTB, 2. Aufl. 2010).
Copyright: Goethe-Institut e. V., Online-Redaktion

Links zum Thema
Philosophisches Forum. Praxis für Kulturphilosophie   
Philosophers today   
„Sinn auf Rädern“   
Freie Geister im Café (Die Zeit, 4/2011)   

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