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Erziehungswissenschaft: Du musst nicht rauchen, Rheinischer Merkur vom 17.07.2008

Die Wertediskussion ist in vollem Gang. Allein in diesen Wochen erscheinen zwei neue Bücher zur Thematik. Ihr Tenor: Zu reden ist über den Wert des Gelernten.

 Unbestritten, Schule muss Wissen und Können vermitteln, und zwar möglichst konkretes Wissen und Können, denn diese sind die Grundlage für Bildung und eine der Voraussetzungen, um Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu bedarf es eines bestimmten Bildes vom Menschen. In unserer abendländischen Gesellschaft ist es durch eine ganze Reihe von Werten ge-prägt, deren Grundlagen bereits in der Antike ausgebildet wurden. Menschenwürde, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, der Religion, des Wohnortes und vieles mehr haben hier ihren Ursprung.

Von der Schule wird längst als selbstverständlich erwartet, dass sie Werte vermittelt. Aber müssen Lehrer ihre Schüler auch zu Werten erziehen? Müssen sie ihnen beibringen, wie sie selber zu begründeten Werturteilen gelangen? In der Erziehungs- wissenschaft ist die Wertediskussion voll im Gang. Allein in diesen Wochen gelangen zwei Bücher auf den Markt, die sich mit dem Thema „Werterziehung“ beziehungsweise mit „Wertgefechten“ befassen. Wandeln sich Werte? Verändert sich ihre Nutzung? Gibt es heute Alternativen, wo früher der eine richtige Wege klar zu erkennen war?

Ein Beispiel: Eine Jugendliche, der von ihren rauchenden Freunden erstmals eine Zigarette angeboten wird, gerät in ein moralisches Dilemma. Denn sie hat abzuwägen, welcher Wert ihr wichtiger ist: Gruppenzugehörigkeit, Ansehen, Gesundheit, Mut, Ehrlichkeit. Einige dieser Werte können in Konflikt miteinander geraten, manche sind zweideutig: So kann mutig sein heißen, die Angst zu überwinden, dass man beim ersten Zug husten müsste und sich blamiert. Es kann aber auch bedeuten, die Zigarette rundheraus abzulehnen, weil einem trotz des Gruppendrucks die eigene Gesundheit am wichtigsten ist – notfalls auch wichtiger als die Zugehörigkeit zur qualmenden Clique.

Müssen nicht nur die Eltern, sondern auch die Lehrer den Kindern beziehungsweise Jugendlichen in solchen Situationen beistehen, in denen sie eine Haltung zu wichtigen Lebensfragen entwickeln? Das zu bejahen klingt zunächst plausibel. Schließlich stimmt wohl jeder dem Motto zu: „Kinder brauchen Werte“. Also muss sie ihnen jemand vermitteln. Der Bonner Philosophie-Praktiker Markus Melchers meint, dass angesichts „exorbitanter Wissenszuwächse und rasender gesellschaftlicher Veränderungen“ vor allem der moralischen Haltung des Menschen eine „entscheidende Bedeutung“ zukommt.

Das beantwortet aber noch nicht die Frage, welche Werte Kinder brauchen. „Es ist ja nicht so, dass heute Werte fehlen – im Gegenteil“, sagt Jürgen Rekus, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Karlsruhe. „Das Problem besteht eher darin, dass es eine Fülle von Werten gibt, die in Konkurrenz zueinander stehen.“ Der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin ist überzeugt, dass Werte nicht zerfallen können – sie würden lediglich nicht mehr „angewählt“, also nicht mehr zur Grundlage des Handelns gemacht.

Auch für Melchers ist der viel beklagte Werteverfall ein Trugbild. Nur wer glaube, dass „ein einziges, eng definiertes Ensemble von Werten, Tugenden oder Normen Anspruch auf unbedingte Geltung oder Richtigkeit“ habe, könne angesichts der „Konkurrenz durch andere Wertangebote und Wertvermittler“ vom Werteverfall sprechen. Ein geschulter Demokrat hingegen wisse, „dass in modernen Gesellschaften konkurrierende Wertangebote existieren“, und werde statt von Wertezerfall von Wertepluralismus sprechen und diesen „als ein wichtiges Kennzeichen demokratischer Gesellschaften“ benennen.

In solchen demokratischen Gesellschaften sind Wertekonflikte unvermeidbar. Ein Beispiel: Die freie Kleiderwahl bei Lehrern und Schülern kann dazu führen, dass eine allzu lässige Mode als anstößig empfunden wird. Sind das bloß Reaktionen von Spießern, die selber gern so herumliefen, sich aber nicht trauen? Oder wird eine Grenze überschritten, die für ein verträgliches Miteinander oder gedeihliches Lernen nötig ist?

Wenn sich eine Gesellschaft wandelt, dann ändern sich auch jene ihrer Vorstellungen, die allgemein als wünschenswert gelten und den Gruppenmitgliedern Orientierung beim Denken, Richten und Handeln geben. Dabei kann es sich um moralische Werte wie Aufrichtigkeit und Treue handeln oder um religiöse wie Nächstenliebe. Es kann aber auch um materielle Werte wie Wohlstand gehen oder um politische wie Freiheit oder die Gleichheit vor dem Gesetz.

In einer Zeit des Wertewandels müssen sich Lehrende fragen, wie sie Kindern am besten dabei helfen können, eigene und belastbare Moralvorstellungen herauszubilden. Für Volker Ladenthin, Erziehungswissenschaftler an der Uni Bonn, gilt: „Die Schule soll nicht zu Werten erziehen.“ Denn, so fragt er: Welche Werte sollten das in einer pluralistischen Gesellschaft sein? Erstrebenswert sei vielmehr eine „Erziehung zum Werten“, also letztlich die Fähigkeit zu Werturteilen. Der Unterricht, und zwar in allen Fächern, solle die Schüler befähigen, „sich mit unterschiedlichen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen und sich bewusst zu entscheiden, sie anzunehmen oder abzulehnen“.

Die Forderung oder – bescheidener – der Wunsch von Eltern oder Politikern, Lehrer sollten dem Nachwuchs dringend benötigte Werte vermitteln, hat für Ladenthin eine zentrale Ursache: „Die traditionellen Institutionen brechen zusammen. Es gibt keine für alle verbindlichen Lebensgewohnheiten, Sitten mehr.“ Da sei es nur zu verständlich, dass die Menschen nach einem Halt suchten. Doch sie täten es vergebens, denn „jeder Wert, den man nun propagiert, vermehrt die Wertvielfalt“. Werte, so sein Fazit, gäben keinen Halt, sie bedürften vielmehr einer „Halterung – Lebenssinn genannt“.

Laut Ladenthin heißt Werteerziehung in der Schule, „über den Wert des Gelernten zu sprechen“. Mathe-Schüler etwa fragten oft, warum sie die Multiplikation lernen müssen. Der Lehrer könne antworten: „Weil sie ein Wert ist, denn sie spart euch die Zeit, die man sonst zur Addition von Zahlen bräuchte.“ Auf die Frage von Chemie-Schülern, warum sie etwas über Stickstoff lernen müssen, könnte der Lehrer entgegnen: „Weil er als Grundlage für Dünger dient – und so Hungersnöte verhindern hilft.“ Das seien simple Beispiele, „doch in der Schule geht es immer um einfache, aber grundlegende Dinge“, so Ladenthin. „Lernen heißt werten.“
                                                                                                                          Walter Schmidt

Lesetipps:
Volker Ladenthin, Jürgen Rekus (Hrsg.): Werterziehung als Qualitätsdimension von Schule und Unterricht. Aschendorff Verlag, Münster 2008. 207 Seiten, 14,80 Euro.
Thomas Ebers, Markus Melchers: Wertgefechte. Eine Klarstellung. Merus Verlag, Hamburg 2008 (erscheint Mitte August).

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