Gespräch mit dem Bonner Philosophen Markus Melchers über die Zeit "zwischen den Jahren" Die hektische Vorweihnachtszeit ist vorüber, das vielleicht nicht weniger stressige Weihnachtsfest überstanden. Kehrt nun endlich Ruhe "zwischen den Jahren" ein? Über die Hektik im modernen Leben, über die Möglichkeiten, sein Leben zu entschleunigen, und über Sinn und Unsinn guter Vorsätze fürs neue Jahr sprach Frank Vallender mit dem Bonner Philosophen Markus Melchers. Kölner Stadt-Anzeiger: Der Advent war für viele Menschen wieder alles andere als besinnlich. Hektik bestimmt mehr denn je unseren Alltag. Sind wir eine Gesellschaft von Getriebenen? Markus Melchers: Meine Antwort ist zweigeteilt. Zuerst einmal eine wissenschaftliche: Psychologen und Soziologen sprechen seit ungefähr zehn Jahren von Beschleunigung. Und das heißt eben auch, dass wir Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr beherrschen müssen, um überhaupt noch den Alltag zu bewältigen. Daneben ist eine zunehmende Vereinzelung zu beobachten. Damit meine ich, dass Menschen weniger Zeit haben, Gemeinschaft zu erleben. Ob das jetzt Geburtstage, gesellige Zusammenkünfte oder auch Weihnachten ist - all das muss lange vorher geplant werden. KSTA: Und die zweite Antwort, die aus Sicht eines Philosophen? Melchers: Was die Soziologen da an Äußerlichkeiten beschreiben, bemerke ich auch, wenn Menschen mit mir über diese Fragen sprechen wollen, wie sie zur inneren Ruhe kommen. Die Voraussetzung dazu ist die äußere Ruhe, abseits vom Getriebe des Alltags zu sein. Ohne gleich in ein Kloster zu gehen, worauf ich mich ja auch wieder vorbereiten müsste. KSTA: Die Kunst besteht also darin, sich im Alltag zu entschleunigen. Wenn ich Sie richtig verstehe, gelingt das den Menschen, auch bedingt durch die modernen Kommunikationsmedien, immer schlechter... Melchers: Es ist schwieriger geworden. Nicht nur von den "Digital Natives", also von denen, die mit dem Internet aufwachsen, sondern auch von der Generation zwischen 40 und 50 wird immer mehr verlangt. Das heißt, viele Dinge gleichzeitig zu machen. Und dafür gibt es dann im Deutschen den Begriff "Multitasking". Dabei ist bewiesen, dass das Ergebnis der Tätigkeiten im Multitasking schlechter ist, als wenn man eins nach dem anderen abarbeitet. Und Multitasking kann zur inneren Unruhe bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen beitragen. KSTA: Jetzt sind wir in der Zeit "zwischen den Jahren". Betriebe schließen, viele Menschen haben Urlaub. Kommen die Leute jetzt mal "herunter"? Wird die freie Zeit als angenehm empfunden oder fallen sie in ein Loch? Melchers: Da habe ich zwei Beobachtungen gemacht. Das eine ist die freie Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, die jedes Jahr wiederkommt und sich der eigenen Planung entzieht. Und dann gibt es den Urlaub. Nach meinen Erfahrungen wird sich auf beide Freizeiten gefreut, die letztere, selbstgewählte wird mit mehr Freude gesehen, auch weil da Selbstplanung mit im Spiel ist. Die fremdbestimmte Freizeit wird oft als Belastung empfunden: Zuerst kommt die als anstrengend empfundene Vorbereitung auf Weihnachten, dann kommt die Zeit danach, die doch nicht als so entspannend empfunden wird wie erhofft. Da muss erst mal wieder alles - im doppelten Sinne - verdaut werden, was über Weihnachten gewesen ist. KSTA: Weihnachten ist also alles andere als ein besinnliches Fest, sondern häufig ein stressiges Fest, das mit vielen Erwartungen verbunden ist? Melchers: Ja, der Geschenkedruck ist groß, das Fest muss schön sein, mindestens so gut wie das im Jahr zuvor. Was Feste ursprünglich mal waren, nämlich Ereignisse zur Jahreseinteilung, das ist völlig weggefallen. Was bei Weihnachten auch völlig weg ist, ist ein Moratorium des Alltags, ein Stillstand. KSTA: Der Begriff "zwischen den Jahren" ist historisch begründet. Heutzutage deutet er an, dass die Zeit stillzustehen scheint. Beobachten Sie, dass das öffentliche Leben tatsächlich mal ein wenig innehält? Melchers: An der Oberfläche läuft es für ein paar Tage in der Tat ein wenig anders, bevor es dann am 2. Januar wieder so weitergeht, als wenn nichts geschehen wäre. Es ist die Frage, wie man mit der Zeit zwischen den Jahren umgeht. Wer die Möglichkeit hat, frei zu machen, kann diese Tagen zum Innehalten nutzen. Vielleicht sogar in Vorbereitung auf das Neue. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob die Zeit tatsächlich dazu genutzt wird, um einen persönlichen Rückblick auf das vergangene Jahr zu halten. KSTA: Wie sieht es bei Ihnen persönlich mit Vorsätzen für 2011 aus? Melchers: Ich nehme das sehr ernst. Die Stoiker und speziell Seneca haben vorgeschlagen, dass man jeden Tag Vorsätze fasst und am Abend schaut, inwieweit diese Vorsätze durchzuhalten waren und wenn nicht, warum. Dieses Modell kann man auch "zwischen den Jahren" versuchen. Nicht im Sinne einer Buchhaltung, sondern dass man schaut, ob das, was man sich vorgenommen hat, auch machbar war. Es geht um die Frage der eigenen Lebensgestaltung, die man zwischen den Jahren gut stellen kann. Da fällt es auch nicht so auf, wenn man andere fragt, wie es bei ihnen mit den Vorsätzen gewesen ist. KSTA: Wie groß und weitgesteckt sollten die Ziele fürs neue Jahr überhaupt sein? Der Ansatz von Seneca ist sehr sympathisch, es erst einmal tageweise zu versuchen. Melchers: Man sollte schauen: Warum bin ich im Beruf so und privat vielleicht ganz anders? Wo ist das ganz Wichtige für mich? Wenn man Kinder hat, sollte diese Frage in Richtung Kinder gehen. Und wenn man schon unterscheidet zwischen Beruf und Privatem, sollte klar sein, dass viele berufliche Termine schon durch den Alltag festgesetzt sind. Da kann man sich natürlich Karriereziele setzen. Ich finde aber nicht, dass man gerade die Zeit zwischen den Jahren zur Karriereplanung nutzen sollte, sondern der Frage nachgehen, wie man sein weiteres Leben ausrichten möchte oder ob es so bleiben soll, wie es ist. KSTA: So könnte man auch mal schauen, wie man sein Leben entschleunigen kann? Melchers: Das auch. Ich denke, dass zwischen den Jahren die beste Gelegenheit ist, sich die Fragen zu stellen, zu denen man sonst nicht kommt. Ich glaube, es ist ein Fehler, das nicht zu tun. KSTA: Wie grundsätzlich sollten die Fragen sein? Oder sollten es Alltagsfragen sein? Melchers: Philosophen stehen immer im Verdacht, die großen Sinnfragen zu stellen. Das meine ich nicht. Man hat Sinnfragen oder man hat sie nicht. Man sollte sie nicht auf Teufel komm raus heraufbeschwören. Ich bin auf der Seneca-Linie: Schau dir das Leben an, wie du es gerne leben möchtest. Schau dir an, was in deiner Verfügungskraft steht, was du ändern kannst, und schaue, wie du ein angemessenes Verhältnis zu dir und deinem Leben finden kannst. Über diese Angemessenheit kann man sich auch mit seinem Partner und Freunden unterhalten. Das ist ein Weg, sich einem Zustand zu nähern, den ich mit "mußefähig" bezeichnen würde. KSTA: Und sich in dieser ruhigen Zeit einfach nur auf dem Sofa rumzufläzen halten Sie demnach für wenig ratsam? Melchers: Natürlich gehört es auch dazu, Zeit totzuschlagen, Langeweile zu empfinden. Es kann unter Umständen auch eine schöpferische Langeweile sein. Etwas anderes ist es, wenn die Form der Entspannung nur darin besteht, sich einem Medium wie dem Fernseher hinzugeben. Das halte ich nur ein-geschränkt für eine Tätigkeit. Es kann entspannend sein, ein Buch zu lesen oder mit Freunden zu sprechen. Diese Entspannung kann sogar spannend sein. Denn Entspannung heißt ja letztlich, sich frei zu fühlen von den Geschäften des Alltags. Würde man nur fernsehen, wäre das reine Ablenkung. So führt man sein Leben auch nicht. Denn dazu gehört zumindest der Versuch, das eigene Leben als etwas Unwiederholbares zu empfinden und dementsprechend zu gestalten. |