Groß werden heißt auch: Die Rätsel der Welt entdecken Wie Eltern ihre Kinder dabei begleiten können Warum in jedem Kind ein kleiner Philosoph steckt Text: Susanne Merkwitz Vor der Kühltheke im Supermarkt steht die fünfjährige Lina und starrt fasziniert in die Auslage. Dort liegt ein Käse, eingepackt in eine runde Schachtel. Auf dem Deckel ist Rotkäppchen mit ihrem Korb zu sehen. Darin liegt eine rund Schachtel, mit eben jenem runden Käse, der wiederum Rotkäppchen mit Korb auf dem Deckel zeigt – und in dem Korb... Als ihre Mutter ruft, will Lina erst einmal nicht weitergehen. Kein Wunder: Die Fünfjährige hat soeben der Unendlichkeit ins Auge geblickt! Die grundlegenden philosophischen Themen, sie begegnen uns nicht selten in banalen Alltagssituationen. Und das ist eigentlich auch kein Wunder: Liegt es nicht nahe, dass existenzielle Fragen auch tatsächlich mit unserer Existenz verwoben sind? Für Kinder, denen viele solcher „großen Gedanken“ um Leben, Tod, Unendlichkeit und Moral noch völlig neu sind, sind das oft wichtige, einprägsame Momente, die sogar einen Wendepunkt ihres gesamten Denkens darstellen können. Der Fachbuchautor Markus Melchers erzählt deshalb gerne das Beispiel vom Rotkäppchen-Camembert und hat es auch in sein Buch „Praktisches Philosophieren mit Kindern“ (Lit, 14,95 Euro) aufgenommen. Wichtige Fragen erkennen
„Das Philosophieren mit Kindern hat seine Zeit“, betont Melchers – meint damit aber keineswegs, dass man es nur zu festen Zeiten betreiben sollte. Ideal sei, philosophiehaltige Situationen im Alltag zu erkennen und dann spontan auf Fragen der Kinder einzusteigen. Wie viele Aufhänger es geben kann, wissen Eltern nur zu gut: Wenn ein Haustier stirbt, wenn Kinder ihre Eltern bei einer Notlüge beobachten oder wenn sie begreifen, dass nicht alle Menschen an denselben Gott glauben, sind sie plötzlich auf dem Tisch, die ganz großen Themen. Und gleichzeitig die Problemstellung, wie man mit seinem Kind über Fragen spricht, auf die man selbst keine eindeutige Antwort weiß. Markus Melchers, der selbst regelmäßig mit Schulklassen philosophiert, rät dazu, Situationen nicht überzuinterpretieren. Nicht jede dahingeworfene Frage, nicht jeder scheinbar tiefsinnige Spruch habe wirklich einen philosophischen Hintergrund. Wenn sich trotz eines viel versprechenden Anfangs kein Gespräch entwickele, sollten Eltern dies einfach hinnehmen: „Man sollte sich immer fragen: Interessiert diese Frage mich oder mein Kind?“, sagt Melchers. Ansonsten könne es passieren, dass man das Kind einfach nur langweilt oder ihm gar die Lust aufs gemeinsame Fabulieren verdirbt. Lass uns mal überlegen…
Wohin sich das Nachdenken über Gott und die Welt entwickeln mag, ist für Eltern wie Kinder jedes Mal ein neues Abenteuer. Ein paar Regeln können dabei helfen, dass das gemeinsame Philosophieren locker und inspirierend verläuft: • Versuchen Sie nicht, die Gedanken Ihres Kindes zu lenken, sondern lassen Sie Freiraum für Unerwartetes. Kinder haben oft einen ganz anderen, unverstellten Blickwinkel auf die Dinge, der auch Große auf ganz neue Ideen bringen kann. • Philosophieren sollte dazu dienen, mit Neugierde auf die Welt und ihre spannenden Rätsel zu blicken. Geben Sie Ihrem Kind nicht das Gefühl, nur „karrierefördernde“, zielgerichtete Fragen seien wichtig. • Lassen Sie Gespräche auf Augenhöhe zu: Für Kinder ist es eine positive Erfahrung, wenn Eltern nicht immer versuchen, die Oberhand zu bewahren, sondern auch mal offen zugeben können: Ich weiß es auch nicht... • Lassen Sie locker, wenn Konzentration und Interesse des Kindes nachlassen. Das gemeinsame Nachdenken künstlich in die Länge zu ziehen, bringt in aller Regel keinerlei zusätzliche Ergebnisse. Wer diese Tipps beachtet, muss keinerlei Befürchtungen haben, sein Kind zu überfordern – egal wie alt es ist. Markus Melchers meint allerdings, dass die Zeit zwischen dem fünften und dem zehnten Lebensjahr besonders geeignet ist, um mit Kindern zu philosophieren: „Ältere Kinder sind - vor allem durch die Anforderungen in der Schule - oft stärker darauf orientiert, was sie denken ,sollen‘.“ Im dritten und vierten Lebensjahr, in der „magischen Phase“ hingegen, fehlten Kindern oft noch wichtige Fähigkeiten, um einen rationalen Blick auf die Welt zu richten. Kristina Calvert, Kinderphilosophin aus Hamburg, glaubt, dass man auch schon mit Kita-Kindern sinnvoll über die Rätsel der Welt nachdenken kann – wenn man auf ihre Kreativität setzt. Bei ihren Workshops gibt sie ihnen deshalb gerne Knete oder Malutensilien in die Hand. „Ich stelle zum Beispiel die Aufgabe, mir etwas „Lebendiges“ zu kneten. Wenn die Kinder fertig sind, sollen sie mir dann erklären, warum das betreffende Ding lebt. Wenn es um Zeit geht, lautet die Aufgabe vielleicht, eine Zeitmaschine zu malen.“ Und auch eigene Gedichte zu schreiben gehört für die Kinderphilosophin zum aktiven Nachdenken dazu. Der einfachste und schönste Weg, mit Kindern ins Gespräch zu kommen, ist es jedoch, ihnen Geschichten zu erzählen oder vorzulesen. Markus Melchers empfiehlt Eltern, sich dabei nicht auf Kinderliteratur zu beschränken. Auch in Erwachsenenromanen oder -theaterstücken fänden sich oft Handlungsstränge, die für Kinder gut nachvollziehbar seien und spannende Denkanstöße liefern könnten. Wichtig sei natürlich, den Stoff kindgerecht aufzubereiten. Fest steht: Gemeinsam auf die Welt zu blicken, bringt nicht nur Eltern und Kindern neue Erkenntnisse, es stärkt auch ihre Verbundenheit. Versuchen Sie deshalb, sensibel für Momente zu sein, in denen ihr Kind echten Redebedarf hat und nicht in der Hektik des Alltags über große Fragen hinwegzugehen. Wer weiß: Vielleicht ist Ihrem Kind ja ausgerechnet vor der Kühltheke des Supermarktes ein richtig toller Gedanke gekommen… |