Herr Melchers, guten Morgen. Wie beginnt ein Philosoph den Tag - mit einer Sinnkrise oder mit knurrendem Magen? MARKUS MELCHERS: Ein Philosoph in der Sinnkrise schläft erst gar nicht. Der Unterschied von Tag und Nacht wird in dieser Situation für ihn bedeutungslos. Angenehmer ist es jedenfalls, mit knurrendem Magen den Tag, also auch das Frühstück zu beginnen. Sie machen Hausbesuche und erklären den Menschen bei Bedarf Gott und die Welt. Oder schieben Sie nur ein paar Wolken beiseite? MELCHERS: Ich erkläre nicht "Gott". Das ist die Sache der Theologen und nicht das primäre Anliegen der Philosophie. Im Rahmen meiner philosophischen Praxis jedenfalls gibt es keinen Gott, der unbedingt Recht haben muss. Wenn Sie aber ein Problem mit Gott haben, dann können Sie mit mir über den "Gott der Philosophen" diskutieren. Ich erkläre auch nicht die Welt. Es geht um etwas Anderes. Das Orientierungswissen, das die Philosophie begleitet, wird zwar im Rahmen der akademischen Philosophie reflektiert. Es wird aber nicht in den Alltag der Menschen getragen. Doch nur hier kann es zur Geltung kommen. Im Mittelpunkt steht deshalb das philosophische Wissen, das für die individuelle Lebensführung bedeutsam ist oder werden kann. Wenn Sie das mit "Wolken beiseite schieben" meinen, ja, dann schiebe ich Wolken beiseite. Philosophie geht unter die Leute. Hat das den Deutschen gerade noch gefehlt? MELCHERS: Die Tätigkeit innerhalb der philosophischen Praxis richtet sich nicht an nationalen Kategorien aus. Was sind Ihre Ziele: Stabilisierung der Ansprechpartner, Förderung des kritisch-aufgeklärten Denkens, Zusammenhänge vermitteln? MELCHERS: Zum eben Geschilderten tritt das Element der Vermittlung kultureller Zusammenhänge - zwischen Philosophie und Literatur, zwischen Philosophie und Theater, zwischen Philosophie und Geschichte oder Philosophie und Kunst. Was nehmen Sie pro Stunde? MELCHERS: Das kommt darauf an, welche Leistung von mir verlangt wird. Im Durchschnitt zahlen die Gastgeber im Rahmen eines Zweiergesprächs 50 Euro. Existentielle Fragen plagen ja auch schon junge Menschen. Kriegen die einen Sondertarif? MELCHERS: Bisher war keiner meiner Gastgeber unter dreißig. Bei Besuchen in Schulen merke ich jedoch, dass Schüler nicht nur überrascht sind, dass es die "Institution" philosophische Praxis gibt; sie bewerten die auch positiv. Gleichwohl denke ich, dass "junge Leute" ihre Fragen im Freundeskreis klären und klären können. Was ist die meistgestellte Frage? MELCHERS: Die meistgestellte Frage gibt es nicht. Was es aber gibt, ist der formulierte Wunsch nach Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit in der Welterfahrung und der Weltbeschreibung. Das Verhaftetsein des Menschen in ein familiäres, historisches oder kulturelles Geflecht eröffnet die Chance zur grenzenlosen Erörterung. Wo ziehen Sie das Verständnislimit? MELCHERS: Verstehen ist Teil des menschlichen Lebensvollzugs. In der Welt sein heißt, sich auf das Leben "verstehen". Im Alltag bauen wir auf ein Verständnis, das auf die Welt und unsere Handlungen bezogen ist. Der Ort dieses Verstehens ist die gesellschaftliche und geschichtliche Lebenswelt. Das Verständnis ist also immer in überlieferte Sinnzusammenhänge eingelagert. Wir Menschen bewegen uns von Anfang an im "Horizont des Verstehens". Im Gespräch mit dem philosophischen Praktiker wird diese Standortgebundenheit deutlich. Es ist der Weg, diese Abhängigkeiten des eigenen Denkens aufzuzeigen. Dies ist eine der wesentlichen Leistungen, die die Philosophie zu bieten hat. Im Prozess des Klarwerdens über die Bedingungen, die dem eigenen Denken und Erleben zugrunde liegen, stellen wir ein Orientierungswissen zur Verfügung, das sich als Klugheit oder Urteilskraft bewähren kann. Was sagen die Psychotherapeuten zu Ihren Aktivitäten? Oder anders: Landen Leute bei Ihnen, die woanders hingehören? MELCHERS: Die Grenzziehung zwischen psychologischer Therapie und philosophischem Gespräch ist klar. Das philosophische Gespräch schließt ein Therapeut-Klient-Verhältnis aus. Denn eine der Grundvoraussetzungen für ein philosophisches Gespräch ist die Gleichberechtigung der Partner. Diese Gleichberechtigung ist bei einer Therapie aufgehoben. Der Therapeut weiß um die "Krankheit" seines Gegenübers. Der Therapeut weiß im besten Fall um die Lösung des Problems. Der Hilfesuchende weiß eben dies nicht. Von Gleichberechtigung, die auch die wechselseitige Kritik einschließt, kann nicht die Rede sein. Aus diesem Grund werden die Themen innerhalb der philosophischen Praxis auch ganz anders verhandelt. Im Mittelpunkt steht dasjenige philosophische Wissen, das für die individuelle Lebensführung bedeutsam ist. Es besteht auch kein Konkurrenzverhältnis zu einer psychologischen Praxis. Dies hat sich bei denjenigen, die sich bei mir melden, schon herumgesprochen. "Es landen" die Richtigen bei mir. Meine midlife-crisis habe ich leidlich bewältigt. Womit muss ich bis zum 60. Geburtstag rechnen? MELCHERS: Abgesehen davon, dass ich nicht in die Zukunft sehen kann, müsste ich Sie näher kennen, um seriös antworten zu können. Ich kann Sie aber zurückfragen: Was befürchten oder erhoffen Sie denn? Ich könnte Sie ja mal einladen - Philosophen trinken seit Diogenes gerne Rotwein, oder? MELCHERS: Diogenes von Sinope hat als Kyniker sicherlich auch dem Wein zugesprochen. Zum Philosophieren, wenn's denn ernst und aufrichtig vonstatten gehen soll,gehört aber ein nüchterner Kopf. Philosophieren unter professionellen Bedingungen ist Arbeit. Und meine Gastgeber, die meine Dienstleistung bezahlen, haben einen Anspruch auf klare Gedankenführung. Riskieren Sie bei diesen Anlässen, als Partykasper missbraucht zu werden? MELCHERS: Das ist noch nie vorgekommen, da wäre ich auch nach zwei Minuten wieder weg. Die Bedingungen werden vorher klar vereinbart. Die Fragen stellte Hans Reinhardt.
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