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Heilsversprechen auf Krankenkasse, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18.10.2009

Osteopathie, Kügelchen – die Vielfalt medizinischer Therapien ist groß. Vieles wird von den Versicherungen gezahlt. Ein Nachweis der Wirksamkeit ist dafür keine Voraussetzung.

Von Magnus Heier

23. Oktober 2009 Ein neurologischer Vortrag über Kopfschmerzen in Köln, streng schulmedizinisch. Wie immer werden danach auch ungewöhnliche Fragen gestellt. "Ich war mit meiner Migräne beim Osteopathen. Er hat festgestellt, dass sie von meiner Leber kommt, weil die nicht ausreichend durchblutet ist. Was meinen Sie dazu?", fragt eine junge Frau. Nicht ausreichend durchblutet? "Wie hat er das festgestellt?", will der Referent wissen. "Er hat seine Hand auf den Bauch gelegt und die Durchblutung gemessen." Mit der Hand? Einige im Publikum sind belustigt, andere nicken zustimmend. Beim Osteopathen waren schon viele - auch wegen Kopfschmerzen. Osteopathen sind in.

Aber was ist Osteopathie überhaupt? Sie helfe, "Bewegungseinschränkungen aufzuspüren und zu lösen", heißt es auf der Homepage eines Verbandes. "Wir schätzen, dass es zwischen 2000 und 3000 Osteopathen in Deutschland gibt", sagt Edgar Hinkelthein, selbst Orthopäde und Osteopath - und ehemaliger Vorstand vom "Verband der Osteopathen Deutschland". Es gibt die Osteopathen, die eine sich über fünf Jahre hinziehende Ausbildung mit Wochenendkursen gemacht und sich damit im Sinne der Verbände qualifiziert haben. Voraussetzung: Sie müssen Arzt sein, Krankengymnast, Heilpraktiker oder Bademeister. Aber es geht auch viel einfacher: "Der Begriff Osteopath ist nicht geschützt. Jeder Therapeut darf sich leider so nennen, jeder darf als Osteopath praktizieren", sagt Hinkelthein. Nur in Hessen ist das anders, dort setzt der Titel auch tatsächlich eine Ausbildung voraus. Wie viele Menschen in Deutschland als Osteopathen ohne jede Qualifikation praktizieren, ist unbekannt.

Zahlen die Krankenkassen?

Aber deren Leistungsspektrum ist praktisch unbegrenzt: Auch Hinkelthein behandelt nicht nur orthopädische Beschwerden. Man könne osteopathisch auch Herzrhythmusstörungen behandeln oder Migräne - und sogar Depressionen, die allerdings nur, "wenn der Psychiater nicht mehr weiterkommt". Zahlen die Krankenkassen? "Die privaten Kassen zahlen überwiegend, die gesetzlichen auf Nachfrage im Einzelfall", sagt er. Dabei ist die Behandlung hochgradig umstritten, nicht nur unter den sogenannten Schulmedizinern: "Osteopathie gegen Depressionen ist Humbug - es gibt keine einzige wissenschaftlich fundierte Untersuchung, die irgendeinen Nutzen dieser Behandlung im psychiatrischen Bereich auch nur andeutet", sagt Professor Frank Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. "Eine osteopathische Behandlung bei Depressionen ist umso unverständlicher, als es ja wirksame ,normale' Therapien gibt - und wenn diese dem Patienten vorenthalten werden, ist dies eine Unverschämtheit den Patienten, ihren Angehörigen und natürlich auch den Kostenträgern gegenüber." In der neuesten Nationalen Versorgungsleitlinie zur Depression, einer Art Koalitionspapier der Fachleute zur Behandlung, tauche der Begriff "Osteopath" überhaupt nicht auf, so Schneider.

Was etwa die AOK nicht daran hindert, auf ihrer Homepage im Netz die Vorzüge der Osteopathie zu preisen: nicht nur gegen allergische Erkrankungen, gegen Tinnitus und hormonelle Störungen, sondern auch gegen Depressionen und Stimmungsschwankungen. Eine Ohrfeige für die Fachgesellschaften. Immerhin: Bezahlt wird der Osteopath von der AOK nur nach Einzelfallprüfung. Ein Mitarbeiter der AOK Rheinland/Hamburg verspricht aber, dass die Behandlung wahrscheinlich übernommen werde, ärztliche Gutachten vorausgesetzt.

Aber es gibt eine große Grauzone

Auch Heilpraktiker muss der Patient nicht unbedingt selbst bezahlen, wie Schneider aus zahlreichen, teils tragischen Beispielen zu berichten weiß: "Zu uns kam eine ältere Patientin nach einem Suizidversuch. Sie war monatelang vom Heilpraktiker mit Tropfen behandelt worden, und die Kasse hatte gezahlt. Die Patientin hatte sich dadurch in Sicherheit gewiegt. Der Suizidversuch wäre meines Erachtens vermeidbar gewesen, da die Depression frühzeitig durch Pharmakotherapie und Psychotherapie gut hätte behandelt werden können. Kein Einzelfall!" In Deutschland praktizieren etwa 20 000 Heilpraktiker.

Darf die Kasse überhaupt zahlen, wenn der Nutzen der Behandlung zweifelhaft ist? Darf sie die Kosten für Blutegel und Schröpfköpfe, Akupressur und Ohrkerzen, Heilpraktiker und Osteopathen erstatten? Die juristische Situation ist verwirrend und unterscheidet grundlegend zwischen gesetzlichen und privaten Kassen. Die privaten dürfen zahlen, die gesetzlichen nur eingeschränkt. Für den Kassenpatienten hat der Gesetzgeber seine Fürsorgepflicht an den gemeinsamen Bundesausschuss G-BA delegiert - einen ebenso mächtigen wie unscheinbaren Zusammenschluss aus Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Kassen. Der G-BA definiert, welche gesundheitlichen Leistungen die gesetzlichen Kassen zahlen müssen. Was nicht in dessen Leistungskatalog steht, dürfen sie auch nicht erstatten. Eigentlich. Aber es gibt eine große Grauzone, die sogenannten Modellprojekte.

„Man darf die Rolle der Krankenkassen nicht überbewerten“

In solchen Projekten dürfen die gesetzlichen Kassen - unter bestimmten Auflagen - ihren Mitgliedern alle möglichen medizinischen Leistungen anbieten, vorausgesetzt, der Bundesausschuss hat sie nicht abgelehnt. Das eröffnet den Kassen die Möglichkeit, auch zu zahlen, was strittig ist, aber populär. Mit Bachblüten und Bioenergetik können sie sich von anderen Krankenkassen abheben.

Eine Kasse, die mit Alternativmedizin wirbt, ist die Securvita. Sie zitiert auf ihrer Homepage ein Krankenkassen-Ranking, nach dem sie "die besten Naturheilverfahren" aller gesetzlichen Kassen anbiete. Securvita zahlt anthroposophische Medizin von der Heileurythmie bis zur Kunsttherapie, von der rhythmischen Massage bis zur Homöopathie. Auch wenn der wissenschaftliche Nachweis der Behandlungen fehlt. "Viele Patienten suchen weniger eine Behandlung, die wissenschaftlich abgesichert ist, als eine, die nach ihrer Erfahrung hilft", sagt Norbert Schnorbach, Sprecher der Securvita. Aber wo liegen die Grenzen? Rechnungen von Heilpraktikern und Osteopathen zahlt auch die Securvitaausdrücklich nicht. Schnorbach sagt aber auch: "Man darf die Rolle der Krankenkassen nicht überbewerten. Wir sind nicht die Instanz, die die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen zu beurteilen hat." Aber wer dann? Wer schützt Patienten vor Scharlatanerie?

Ein Behandlungszweig mit Spitzenwachstum

Wer schützt vor allem die Privatversicherten, die noch deutlicher gefährdet sind, denn ihnen fehlt auch die Kontrolle des Bundesausschusses? Für sie gilt ein Vertragsrecht, und hier mischt sich der Gesetzgeber fast nicht ein. "Grundlage der Privatversicherten ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Versicherte hat Anspruch auf alle Leistungen, deren Erfolg mit höherer Wahrscheinlichkeit eintritt als das Gegenteil", sagt Professor Jürgen Fritze vom Verband der Privaten Krankenversicherung. Die wachsweiche Formulierung lässt viel Raum für Interpretationen, und so läuft es auch: "Wenn die Versicherung sich weigert zu zahlen, wird sie vor Gericht gezerrt. In zahllosen Urteilen werden auch zweifelhafte Behandlungen eingeklagt." Die Gerichte treiben die Kassen vor sich her, was die Kosten explodieren lässt. Ein aktuelles Beispiel: Nahezu sämtliche Ausgaben der privaten Kassen sind im vergangenen Jahr gestiegen, von 6,4 Prozent für Arztbehandlungen bis zu 9,4 Prozent für Zahnersatz. Den Rekordanstieg verursachten aber die Heilpraktiker mit einem Plus von 13,1 Prozent. Ein Behandlungszweig mit Spitzenwachstum. Aber auch Fritze sieht den Schlüssel für eine Lösung nicht bei den Versicherern: "Die privaten Krankenversicherungen können die Qualität medizinischer Behandlungen nicht überwachen - das ist auch nicht ihre Aufgabe. Die Tatsache, dass die private Krankenversicherung zahlt, ist kein Qualitätssiegel."

Wer aber kann "Qualität" in der Medizin überhaupt bewerten? "Die Aufsicht darüber, dass Ärzte keine unsinnigen Behandlungen durchführen, haben die Landesärztekammern - und die kommen dieser Pflicht nicht nach", sagt Fritze. Er gibt auch gleich ein Beispiel. Vor einigen Wochen war er bei der Bundesärztekammer, um auf die Gefahr durch neue, möglicherweise unzuverlässige Brustkrebs-Gentests hinzuweisen. Es sei nun Sache der Kammer, den Ärzten eine entsprechende Empfehlung vorzulegen.

„Wir suchen eine Art von Erlösung“

Im Augenblick ist es so, dass nur schulmedizinische Behandlungen einer strengen Kontrolle unterliegen, dass Ärzte sich fortbilden und ihre Behandlungen sich in wissenschaftlichen Studien beweisen müssen. Im Bereich der Alternativmedizin gelten diese Mechanismen nicht - gleichgültig, ob sie von Ärzten, von Heilpraktikern oder wem auch immer durchgeführt werden. Erlaubt ist, was gefällt, nicht was wissenschaftlich überzeugt. Gewünscht wird, was das Etikett alternativ, sanft, ganzheitlich oder einfach menschlich trägt. Markus Melchers, Autor und in Bonn als philosophischer Berater tätig, hält das Vertrauen in die Alternativmedizin für quasi-religiös fundiert: "Wir suchen beim Alternativmediziner sehr viel mehr als nur Heilung, mehr als nur eine Gesundung des Körpers. Wir suchen eine Art von Erlösung." Nach Möglichkeit eine, die die Kasse zahlt

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