Philosophie für jedermann: Eine Rundreise durch die Klubs und Debattierzirkel der Republik Von Christian Schüle
An einem der letzten Sonntage des Jahres 2010, elf Uhr morgens, steigen neun Leute für je acht Euro in die Katakombe des Café Ringelnatz hinab , München-Schwabing, es schneit. Im Raum sind, mit reichlich Sinn für Schönheit und Stil, acht Teelichter und vier Kerzen arrangiert, es riecht nach Klostein, nebenan ist das WC. Im Wandregal hinterm Tresen steht eine antiquierte Hi-Fi-Anlage, Fenster gibt es keine. Der Raum ist 20 Quadratmeter klein, und im Halbkreis stehen zehn Eisenstühle mit gelbem Sitzpolster, Cappuccino, Tee, Lachsscheiben, Melonenschnitze, Käse und Croissants bringt man vom Brunch-Buffet oben mit, man sitzt, man isst, man pellt ein Ei. Fünf Frauen und vier Männer sind gekommen, zwischen geschätzt 30 und geschätzt 65, manche zurückgelehnt, manche vorgebeugt, Jeans, Pullover auffallend viele Trekkingschuhe. Dr. Giovanni Russo, Spiritus Rector, Organisator und Moderator der „Denkbar“, hat, allen gegenübersitzend, bereits Platz genommen – auf dem Tischchen neben ihm eine schmale Vase mit verblühter Rose – , er legt die Armbanduhr ab, und nun geht es los. „Stört Sie zurzeit etwas?“ fragt er mit weicher Stimme. „Haben Sie Probleme, die Ihnen auf den Nägeln brennen?“ „Das Verhältnis von Kirche und Staat“, sagt einer, der jedes Mal kommt; das Thema „Entfremdung“ wünscht sich eine ältere Dame, die neu ist; Rituale, Illusionen, Ängste – auch darüber könnte man reden, gewiss Schließlich einigt sich die Runde akklamatorisch auf die „Freiheit des Denkens“. Wer schlug es vor? Der Mann, der, wie er sagt, bis zum letzten Atemzug 68er sei und sich erheblich in den Denkprothesen der heutigen Mediengesellschaft störe, genau genommen daran, dass alle Welt nur noch Vorgestanztes nachbabble und keiner mehr selber denke.
Und so geht es fort. Der Denkweg ist eröffnet und dirigiert sich – hier und da Sack- wie Seitengassen durchstreifend – peu à peu selbst, während neun engagierte Münchner eineinhalb Stunden lang über Verblendung und Bändigung des Bürgers anno 2010 diskutieren – und nicht des Bürgers schlechthin, wohlgemerkt, sondern jenes Bürgerindividuums, das sie selbst sind. Die sonntägliche Morgeneinheit „Reflexion in der Denkbar“ des Café Ringelnatz ist ein typisches Exerzitium außerakademischen Philosophierens, lebensprall und binsenweise, und nur einziges Mal fällt, wie eine winterliche Klischeeflocke, zwischen elf und ein Uhr der Name Sokrates. Neunmalkluge Werk-Exegesen sind so wenig zu vernehmen wie geworfene Heidegger-Interpretationen oder systemische Hegel-Exkurse. In einem philosophischen Café geht es um mehr als um mühsam-bemühte Philologie, es geht ums Leben an und für sich: um den freien Austausch auf Augenhöhe, um die Begegnung mit Gleichgesinnten, um die Vertiefung ins eigene Sein ohne Curriculumspflichten, Hausarbeitszwänge oder Credit Points.
Substanzialistische Geister mögen einwenden, solcherlei Volksphilosophicum sei allenfalls ehrgeiziges Geplauder, intellektuell geschminkte Laientherapie, esoterische Wundertütenspiritualität ,mehr noch: eine quakende Fortsetzung der allgemeinen Trivialisierung, welche bestens dem auf mentale Wellness, Palaver, Prominenz, Erregung und Richard David Precht setzenden Zeitgeist entspreche. Dr. Russo hielte solche Einwände für abwegig. Seit fünf Jahren betreibt er seine Denkbar in einer denkbar „schwierigen Markt-lücke“, einen Kanon, den man leichtfertig konsumieren kann, bietet er bewusst nicht an. Kanon klingt nach Auswendiglernen; Café hingegen: nach Sinnlichkeit, Gemütlichkeit, Geborgenheit.
Formen und Formate außeruniversitären Philosophierens – und in der Tat ist es eher Philosophieren denn Philosophie – sind seit über zehn Jahren en vogue, in der Provinz wie in den Metropolen. Alles begann 1998 – bien sur! – im Café des Phares an der Place de la Bastille in Paris, als der französische „Nietzsche-Spécialiste“ Marc Sautet mit einem kleinen, feinen, aber vor allem engagierten Zirkel von philosophie- interessierten Freunden ein unerlöst schlummerndes Bedürfnis nach dem gemeinsamen Räsonieren über den „Sinn von Sein“ entdeckte. Die regelmäßigen Begegnungen sind weder dem Pariser Kulturbürgertum noch den philosophiegeschichtlich Examinierten vorbehalten – sie stehen jedermann und jederfrau offen.
Dieser Auftrieb der außerakademischen entspricht der Stagnation der akademischen Philosophie; Aura wie Eros der universitären Disziplin als Deutungsmonopol des Allzumenschlichen sind verflogen, ihr Hochamt der Abstraktion und ihre Ausdifferenzierung in Subsysteme hat Räume für Erlösungssehnsüchte in Zeiten wachsender Unsicherheit und Verflachung geöffnet.
Der Austreibung des Geistes durch den totalen Boulevard setzen im aufgeräumten „Vierscheibenhaus“ des Westdeutschen Rundfunks in Köln seit dreieinhalb Jahren drei Menschen etwas schein-bar Quotenkillendes entgegen. Das Philosophische Radio, WDR 5, freitagabends 20 bis 21 Uhr, ist Philosophie mit und durch das Medium Hörfunk, ein physikalisches Philosophicum in Wellenform. Resonanz und Renommee sind derart groß, dass führende Köpfe wie Peter Bieri, Otfried Höffe, Dieter Birnbacher, Thomas Metzinger, Herbert Schnädelbach oder Axel Honneth anstandslos aus ihren Instituten ins Studio kommen. Die Sendungsdramaturgie läuft so: Der geladene Gast, Moderator Jürgen Wiebecke und die Hörerschaft entwickeln ihr Thema des Abends, meist aus dem Bereich der praktischen Ethik, interaktiv, diskursiv und bestenfalls dialektisch. Jeden Freitagabend genießen deutsche Gebührenzahler eine Stund Reflexion in der Reizflut, eine Stunde Niveauversprechen, eine Stunde Zeit, Auszeit, Denkzeit, während sie über „Unendlichkeit“, „Liebe“, „Vernunft“ oder „Gefühle“ hörsprechen. Heureka live! Bis zu 100 000 Hörer pro Sendung, 66 000 Podcast-Abrufe pro Monat – Das Philosophische Radio lebt von den Bedürfnissen eines medial vernachlässigten Teils der Gesellschaft. Man will verstehen, man will sich und sein Menschsein verstehen.
Das Zentralorgan allgemeinverständlicher Aufbereitung philosophischer Kontexte – und angeblich von vielen Kafffeehausphilosophierenden zur Vorbereitung genutzt – ist das halbjährlich erscheinende, merkwürdig unhandliche Journal namens der blaue reiter. Ersterscheinung: 1995. Aktuelle Auflage: 4000. Profil: meistverkaufte Philosophiezeitschrift deutscher Sprache. Anzeigen: zwei pro Heft. Motto: Aus Freude am Denken. Begonnen hat das Projekt als „Studentenwitz“ der Fachschaft Philosophie am Humboldt-Zentrum der Universität Ulm, als acht Diplomanden ihren Pro-fessoren beweisen wollten: Philosophie geht auch anders! Jahre später schrieben im blauen reiter neben allerlei Unbekannten, akademische Großkoferten wie Robert Spaemann, Hartmut Böhme, Christoph Türcke und auch Rüdiger Safranski.
Siegfried Reusch, der einzige Redakteur, Chefredakteur, Herausgeber, diplomierter Chemiker, Fichte-Promovend, Mann der ersten Stunde und seit Jahren hauptberuflich Vater, sagt am Esstisch seines Aachener Wohnhauses, das zugleich Redaktionsgebäude ist, gleichsam programmatisch: „Philosophie ist keine Lebenshilfe. Sie ist und bleibt Arbeit und Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen.“ So ist der blaue reiter das Produkt einer nie versiegenden Faszination für Philosophie, stetig angetrieben von einem Netzwerk aus Graswurzel-Idealisten, gegen alle Krisen, Moden und Entfremdungen, Schwer-punktthemen in fünfzehn Jahren waren Götter, Geld, Glück, Ich, Sex, Körper, Erinnern, Freiheit, Heimat, Philosophie und Wirtschaft.
Es dauert keine zwei Sekunden, schon schnellt die erste Hand nach oben All diesen außerakademisch Philosophierenden geht es nicht um Theorievermittlung, sondern um Partizipation und „Wertschöpfung“. Um das teilnehmende Verhandeln von Werten und Normen ohne Frontaldidaktik, es geht ihnen um Ansprache und Angehörtwerden inmitten einer abgehetzten Erregungsgesellschaft. Während die akademische Philosophie von Texten ausgeht, widmet die außerakademische Philosophie sich Befindlichkeiten und Themen – zum Beispiel dem „Erhabenen“.
Bonn, Mitte Dezember, Kulturbistro Pauke Life, das 148. philosophische Café, Eintritt frei. Als kurz nach acht Uhr abends die Türen des Nebenzimmers schließen sind 38 Menschen da, oft Paare, männliche Singles, meist engagiertes Bürgertum, alle Stühle sind besetzt. Philosophie, eröffnet Moderator Markus Melchers, einer von etwa 160 „Philosophischen Praktikern“ in der Republik, sei nicht das Aufschreiben komplizierter Theorien, sondern Hilfe für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Zu Beginn trägt Melchers drei sich widersprechende Zitate aus den Werken von Immanuel Kant, Moses Mendelssohn und Friedrich Theodor Vischer über das Erhabene vor. Es dauert keine zwei Sekunden, da schnellt die erste Hand nach oben, und der Diskurs beginnt. Die Stimmung ist espritvoll-witzig, manchmal flapsig, man klärt Begriffe, fragt nach, nimmt aufeinander Bezug, lässt einander ausreden. Und auch bei schleppender, schleifenartiger oder pointenloser Verfertigung der Gedanken herrscht aufmerksame Stille und angewandte Toleranz. Sind zum Beispiel die Alpen, ist eine Kindsgeburt, war Willy Brandts Kniefall „erhaben“? Ist Erhabenheit womöglich die die Größe der Selbsterniedrigung?
Espressogeruch, Löffelklacken. Um halb zehn ist man beim Heiligen, vulgo Göttlichen angekommen, doch ganz ohne Kant und der Nichtvorstellbarkeit des Unendlichen geht es freilich nicht. Als um zehn zwei Obolus-Körbchen für den hauptberuflichen Philosophiemoderator herumgereicht werden, wird klar, dass die Logik eines Philosophischen Cafés eben darin besteht, keine Logik zu haben. Was das Erhaben nun ist – man weiß es immer noch nicht. Aber man weiß mehr als vorher. Man war zwei intensive Stunden aufgehoben im Wohlgefühl des Gesprächs. Und vielleicht hat man das Leben ein bisschen besser begriffen, vielleicht hat man auch nur einen sympathischen Mitdenker kennengelernt. Berührt geht man hinaus in die kalte Bonner Nacht, minus sieben Grad, zauberhafter Winter.
„Und, was nehmen Sie von heute Abend mit nach Hause?“ Der Mann, Ende sechzig, Mantel, Baskenmütze und Brille, überlegt zehn lange Sekunden, dann sagt er in eine Atemwolke: „Nichts Konkretes, aber Positionen zum Leben, die man vorher strikt abgelehnt hat, hallen Tage später nach, und die eigenen Dogmen werden relativiert.“ Deshalb hält sich der aufgewühlte Herr jeden vierten Freitagabend frei. Welch gute Nachricht am Anfang des Jahres: Das deutsche Debattierbürgertum – es lebt. |