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Lange Weile, General-Anzeiger Bonn vom 21. und 22. Juli 2007
Soziologie Markus Melchers geht im philosophischen Gesprächskreis dem Phänomen der Langeweile auf den Grund. Die Moderne hat sie den Menschen gebracht - und als Gegenmittel gilt die Muße

Von Annette Claus
Rheinbach. Die Zeit scheint zu tröpfeln. Plopp macht es, plopp und wieder plopp. Nichts zu tun, keine Lust, etwas zu tun. Ausatmen, einatmen, ausatmen - es ist ja soooooooo laaaaaangweilig. Kinder kennen dieses Gefühl, dass sich eine eigentlich doch kurze Weile in die Länge zieht. Besonders in den Ferien, wenn das Wetter nicht mitspielt. Erwachsene kennen es aber auch. Und manchmal reden sie auch darüber.
Zum Beispiel an einem Mittwochmorgen um zehn Uhr im Pfarrzentrum am Rheinbacher Lindenplatz. Zehn Frauen und zwei Männer haben sich dort versammelt. Sie sitzen an u-förmig arrangierten Tischen, manche haben ein Glas Wasser vor sich. Viel scheint nicht nötig zu sein für den philosophischen Gesprächskreis mit Markus Melchers. Der 44-jährige Bonner hat es mit seinen philosophischen Vorträgen, aber auch seinen Einzelberatungen, die er ambulante Philosophie nennt, zu einiger Berühmtheit gebracht. Im philosophischen Gesprächskreis des katholischen Familienbildungswerkes gibt er seit sechs Jahren Anregungen. Denkanstöße sozusagen.
"Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie im Zustand einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen", zitiert er Blaise Pascal. Auch Immanuel Kant hatte nicht viel übrig für die lange Weile. Sie sei "die Aneklung seiner eigenen Existenz aus der Leerheit des Gemüths an Empfindungen" schrieb er. Und der französische Aufklärer Montesquieu war sich sicher: "Alle Fürsten langweilen sich: ein Beweis dafür ist, dass sie auf die Jagd gehen." Das klingt ja nicht so erfreulich, finden die Damen und der Herr im Kreis. "Ich vermisse das Positive", sagt eine. Aus Langeweile kann ja auch etwas Kreatives entstehen", eine andere. Hin und her geht das Ge-spräch, ganz klar: Schon die Definition von Langeweile stellt die Gruppe vor Schwierigkeiten.
Nur im Deutschen, merkt Melchers an, hat der Begriff der Langeweile etwas mit dem Zeitempfinden zu tun: Zeit wird als zu lang empfunden, ein Opfer von Langeweile weiß, mit seiner Zeit nichts anzufangen. Im Englischen und französischen betone die Sprache her den Überdruss, die Verdrießlichkeit. Kinder seien schneller ein Opfer dieses Phänomens, weil ihr Erregungspotential ein anderes sei. Zudem haben sich ältere Menschen in der Regel den Umgang mit der Langeweile beigebracht, sie erdulden sie geduldiger.
Vier Typen der Langeweile macht Melchers schließlich aus und die Teilnehmerinnen und der Teilnehmer im Kreis schreiben eifrig mit. Situative Langeweile entsteht durch Umstände, etwa eine lange Bahnfahrt oder Wartezeit beim Arzt. Überdrüssige Langeweile bezieht sich auf monotone, banale Tätigkeiten, zum Beispiel tägliches, immer gleiches Geschirrspülen. Wer existentielle Langeweile empfindet, leidet unter Sinnarmut, einer Inhaltslosigkeit der Welt. Und schöpferische Langeweile schließlich, wie sie Künstler kennen, ist laut Melchers eine nicht gesuchte Muße: "Situationen, in denen nichts weiter geschieht, aber dann kommt die Idee."
Schön und gut. Und wie kommt die Langeweile in die Welt? Sie ist ein modernes Phänomen, glauben die Historiker. Ein mittelalterlicher Mensch, der erstens ununterbrochen mit der Existenzsicherung beschäftigt war, zweitens in sinngebender Religiosität lebte und sich somit als Mitglied einer Gemeinschaft, als teil eines kosmologischen Zusammenhangs begriff, wird sie nicht empfunden haben. Erst seitdem die Verbindung zur Religion verloren gegangen ist, seitdem sich die Menschen als einzelne, sinnbedürftige Wesen begreifen, fühlen sie Langeweile. Aufklärung und Industrialisierung sind die Schlagworte dazu.
Arthur Schopenhauer glaubte, der Mensch pendle zwischen Schmerz und Langeweile. Schmerz, wenn Objekte des Begehrens nicht erreicht, Langeweile, wenn er sie erreicht. "Langeweile kommt durch Wunscherfüllung in die Welt. Das gilt für Fürsten und für uns", so Melchers.
Und das Gegenmittel? Aus historischer Sicht die Erwerbsarbeit, nach dem Motto, "wer arbeitet, der langweilt sich nicht." Tatsächlich funktioniert soziale Anerkennung in unserer Gesellschaft über Arbeit - leere Zeit bereitet dementsprechend Verdruss; und wer seine Zeit vergeudet, ist wenig anerkannt. Eine Lösung, die die zehn Frauen und die beiden Männer im Rheinbacher Pfarrzentrum nicht zufrieden stellt. Auch der "Langeweileverscheuchungsautomat" Fernseher gefällt ihnen nicht als Heilmittel. Schon gar nicht überzeugt er Melchers, der glaubt "dass es kein Mittel gegen Langeweile gibt, am ehesten noch Bildung." Denn sie eröffne dem Menschen verschiedene Handlungsoptionen.
Nicht weit davon entfernt argumentiert der Soziologe und Glücksforscher Alfred Bellebaum in seinem Buch "Langeweile, Überdruß und Lebenssinn". Er glaubt an die Muße, an die schöpferische Gestaltung der Zeit, als Ausweg aus der Langeweile. Die Muße sei für Menschen jedweder Bildungsstufe möglich. "Der Intellektuelle, der Künstler kann dies beim Denken, Lesen, Schreiben, malen oder Musizieren tun", sagt er. "Aber auch der Kleingärtner oder der Bastler im Hobbykeller kann Muße erfahren."   

      © Sinn auf Rädern/BelKom