Haltung finden, HANDELSBLATT vom 11.01.2002 |
Nach den Psychoanalytikern sorgen jetzt die Philosophen für Licht im Dunkel ungelöster Fragen
Als Jutta Groll, 37, technische Redakteurin beim Telekom-Unternehmen Detecon in Bonn, zum ersten Mal mit "ihrem" Philosophen am Rhein entlangspazierte, wusste sie gleich, dass er ihr eine Heimat bot. Nach dem Tod ihrer Mutter, nach Liebeskummer und dem Beginn der Bombardierung Afghanistans wollte sie mit jemandem sprechen, der ihr nicht mit standardisierten Antworten auf Fragen kam, die sie gar nicht gestellt hatte. Sie suchte "das freie Gespräch, den Austausch, bei dem man die Welt auseinander nehmen kann". Der Philosoph und sie gelangten sofort auf eine Ebene, "die völlig losgelöst war von meinem Alltag. Auf einmal dachte ich über viele Dinge ganz anders, weil ich erkannte, dass es nicht eine Wahrheit gibt - alles ist eine Sache der Perspektive."
Inzwischen kann sich die Rheinländerin ein Dasein ohne "philosophischen Zugang zu den Dingen, die da draußen und in mir geschehen", nicht mehr vorstellen. "Das gibt mir Power, mein Leben so zu führen, dass ich mit mir einverstanden bin, wenn ich abends im Bett liege." Erst das Philosophieren habe ihr klargemacht, "dass es darauf ankommt, sich auseinander zu setzen. Vorher habe ich im Chatroom mit Leuten geplaudert, hier habe ich den ganzheitlichen Ansatz." Jutta Groll ist gerade dabei, einen philosophischen Kreis zu gründen, Kollegen zeigen großes Interesse. "Wir sind alle technikfixiert und brauchen geistigen Ausgleich. Den finden wir in philosophischen Texten, die wir diskutieren." Philosophieren liegt im Trend, seitdem sich die Welt noch schneller verändert: Philosophen haben bereits vor Jahren Praxen eröffnet.
Jutta Grolls Philosoph Markus Melchers, 38, hilft bei existenziellen Notfällen. Weil er sich dabei in Bonn meist aufs Rad schwingt, um vor Ort erste Gesprächshilfe zu leisten, hat er sein Ein-Mann-Unternehmen "Sinn auf Rädern" genannt. Doch inzwischen wird er bundesweit gebucht, Anreisekosten und Honorar, Untergrenze 50 Euro pro Stunde, übernimmt der Klient.
Melchers ist ambulanter Philosoph und betreibt "philosophische Lebensberatung". Mit seinen Klienten geht er an Flüssen spazieren, streift über Friedhöfe, sitzt auf Parkbänken, oder beide absolvieren redend und gestikulierend einen Museumsparcours. Beziehungsgeräderte Singles plagen sich grauhaarig immer noch in Sisyphos-Manier am Rätsel der Liebe ab, Ingenieure finden sich im rasanten Wechsel der Werte und Moden nicht zurecht, Ärzte quälen moralische Fragen, die durch das Forschungstempo aufkommen, und Väter und Mütter wissen nicht mehr, worauf sie ihren Nachwuchs vorbereiten sollen. 75 Prozent der Ge-sprächspartner sind weiblich. "Sie sind auf Erkenntnis aus, ihre Fragen sind meist existenzieller Art", charakterisiert Melchers. "Während mir Männer anfangs oft mit intellektueller Attitüde begegnen und Philosophie wie Fitnesstraining betreiben." Die meisten seiner Klienten haben Gesprächserfahrung mit Psychologen, Pastoren und anderen Profi-Begütigern.
"Sie sind überrascht, weil ich ihnen gleichberechtigt begegne. Ich habe keine Antworten, ich diskutiere sie. Es gibt kein Heilsversprechen, aber sehr wohl Lösungsansätze. Meist rufen mich die Klienten bei einem biografischen Einschnitt. Es ist meine Aufgabe, nicht zuzulassen, dass sie dort stehen bleiben. Im philosophischen Gespräch erfahren wir einen Zugewinn an Freiheit. Wir denken selbst und verlassen uns nicht auf Vorgedachtes. Philosophieren heißt, eine bestimmte Haltung zur Welt einzunehmen."
Kann man aus der Philosophie einen praktischen Nutzwert ziehen? Der Königsberger Großdenker Immanuel Kant regte an, immer neu die vier Grundfragen der menschlichen Existenz zu reflektieren: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? "Wenn ich philosophiere", erklärt Jutta Groll, "gelange ich in eine Welt, die sich von meinem Berufsalltag abhebt." Im Job ist sie damit befasst, eine Bedienungsanleitung für eine Software, die ein neues Abrechnungsverfahren beschreibt, abzufassen, ständig pendelnd zwischen London und Bonn. "Das ist anstrengend, ich könnte mich betäuben damit, aber das allein befriedigt mich nicht. Ich muss mich davon loslösen, um zu mir zu kommen." Kants Fragen und Ansätze anderer Philosophen helfen ihr dabei. Die Faszination besteht im Abenteuer des Denkens, im Erschließen "anderer Dimensionen".
Die gute alte Sinnfrage, so Markus Melchers, sei ihm in seinen drei Jahren ambulanter Philosophentätigkeit noch nie untergekommen. "So wird heute nicht mehr philosophiert. Uns plagen alle die gleichen Ängste, wir blicken mit Schrecken auf das, was in der Welt und vor unserer Haustür passiert. Da ist es gut, sich an die Philosophen zu erinnern, die schon in der Antike und in mittelalterlichen Trostbüchern Lebensweisheiten festgehalten haben. Wenn wir diese Texte lesen und darüber sprechen, werden wir autonomer, souve- räner, und das ist ein persönlicher Gewinn."
Markus Melchers ist inzwischen mit seiner fliegenden Praxis auch von der Industrie entdeckt worden. Eine Kölner Privatbank bat ihn zum Kamingespräch mit den Mitarbeitern, Thema "Gewinn und Gewissen". Ein anderes Unternehmen hat ihn als Referenten und querköpfigen Stichwortgeber in eine Gesprächs- serie eingebunden, die in einem schwäbischen Schloss zu neuen Erkenntnissen verhelfen soll.
Melchers Fazit: "Der Philosoph wird heute wieder gebraucht." Ende Januar erreicht die philosophische Subkultur auch das Fernsehen. Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski starten im ZDF ihr "Philosophisches Quartett", in dem sie die Welt von heute mit Hilfe großer Männer von gestern erklären wollen.
Alles läuft wieder auf die alte Grundeinsicht hinaus, die schon Sokrates den Leuten auf dem Marktplatz von Athen beibrachte: Erkenne dich selbst. Dann kannst du etwas aus deinem Leben machen. Roland Mischke |
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