„Sinn auf Rädern“ , Kirche Intern (Österreich) 10|2001 |
Der Bonner Philosoph Markus Melchers bietet Lebenshilfe Ein Portrait von BERND MARZ Seit vier Jahren arbeitet Markus Melchers, 38, als „ambulanter Philosoph“. Seine Klienten leiden an der „Unübersichtlichkeit unserer Welt“. Besuche bei Seelsorgern oder Psychologen brachten keine Hilfe, boten keine Orientierung. Melchers, der der Philosophie die Aufgabe zuweist, als „Stuntman für Probleme“ aufzutreten, „sortiert“ zunächst einmal philosophisch-methodisch, wo der Schuh seines „Gastgebers“ drückt. Vom Gastgeber spricht er, weil der Philosoph seine Dienste – vergleichbar dem Service von „Essen auf Rädern“ – in der Wohnung oder im Haus seiner Klienten anbietet. Hier legt er zunächst einmal seine Karten offen auf den Tisch: „Es ist schwer, sich zurecht zu finden in der Lebenssituation der Moderne. Das Leben aus einem Guß gibt es nicht mehr.“ Im Gespräch versucht der Philosoph dann das „Unverfügbare“ menschlichen Lebens und Daseins zu vermitteln. Die philosophischen Vertreter des „fragmentarischen Lebens“ (wie z.B. Benjamin, Kracauer, Simmel) bieten hermeneutische Hilfe. Der Mensch müsse verstehen lernen, die Vielfältigkeit des Lebens nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen. Deshalb seien in Lebenskrisen nicht monokausale Erklärungen, „nicht die Eindeutigkeit“ das Ziel, sondern die Befähigung, „sich in der Vielfältigkeit der Welt zurechtzufinden“. Um dieses Ziel glaubwürdig, wahrhaftig zu vertreten, gilt für Melchers der Leitsatz, dass er selbst sich seinem Gegenüber „als Mensch kenntlich macht, um erkennbar zu sein.“ „Ich bin nicht der Theorieautomat“, hält er fest. Entscheidende Kriterien seiner Arbeit sind deshalb nicht Abstraktionsakrobatik, Unverständlichkeit und Schulbildung, die Merkmale akademischer Philosophie also, sondern die „Gleichberechtigung und das Ernstnehmen der Position der Gesprächspartner“. Um schon rein äußerlich keine Ähnlichkeit mit ärztlichem oder psychotherapeutischem Handeln aufkommen zu lassen, macht sich Melchers auf den Weg zu den Menschen, zumeist mit dem Fahrrad, bei größeren Strecken mit Bus oder Bahn. Er möchte so auch denjenigen die Teilnahme am „philosophisch-kulturellen Austausch“ ermöglichen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, ihre Wohnung oder ihr Haus zu verlassen. So vermittelt er „Sinn auf Rädern“. 75 Prozent seiner Klienten sind Frauen. „Die suchen rationale Lösungen für ihre Probleme“. Und die Männer? „Die veranstalten in den Gesprächen mit mir zumeist ein geistiges Muskelspiel, wollen ihre Überlegenheit demonstrieren oder einfach nur ihre vorgefertigten Positionen bestätigt haben.“ Die Menschen, die den Besuch von Melchers erbitten und für die Stunde 90 Mark bezahlen, suchen zumeist nach einer einzigen Antwort. „Oft zu Fragen um Liebe, Leben und Tod“, erzählt der Philosoph. „Ich schockiere sie erst einmal, wenn ich mehrere Antworten biete.“ Aber genau darum gehe es ja heute: „Pluralität aushalten, sie nicht als Bedrohung empfinden, sondern die eigene Urteilskraft schulen.“ Melchers setzt entschieden auf die Philosophie der Aufklärung, in deren Mittelpunkt die Begriffe von Freiheit und Autonomie stehen. Er verdeutlicht seine Arbeitsweise: „Wenn einer meiner Gastgeber sagt, ‚mein Leben ist verpfuscht’, dann sage ich nicht sofort, ‚dann packe ich jetzt mal den Aristoteles aus’, sondern versuche eine Begriffsklärung: Was heißt verpfuscht? Denn die Vorstellung, die wir von etwas haben, bestimmt unser Leben, unser Handeln.“ Für den praktischen Philosophen stand bereits während seines Studiums der Fächer Philosophie, Geschichte und Vergleichende Religionswissenschaften fest, seinen späteren Lebensunterhalt als Philosophos, „Freund der Weisheit“, zu verdienen. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, das elitäre Fach ohne erkennbaren Nutzwert aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft herauszuholen und für die Nöte und Sorgen der Menschen dienstbar zu machen. Wichtige Voraussetzung für diese Arbeit: „Ich vertraue dem Denken meiner Gesprächspartner, schulmeistere nicht. Die Menschen können und sollen angstfrei mit mir sprechen. Viele, die bereits eine Therapie hinter sich haben, sagen mir: Bei Ihnen fühle ich mich so richtig frei.“ Entscheidend dafür ist die Ausgangslage der Gespräche, auf die Melchers sehr viel Wert legt: „Der Gastgeber und ich sind gleichberechtigt. Um das zu unterstützen, empfange ich ihn nicht in einer Praxis, sondern treffe ihn an einem Ort seiner Wahl, überlasse ihm die Position des Einladenden.“ Melchers geht es nicht darum, Wissen zu vermitteln, sondern darum, „sich selbst begründen zu lernen.“ Allerdings: „Einmal wurde ich nur gebucht, um über Nietzsche zu diskutieren.“ Das war ein intellektuelles Kräftemessen – natürlich mit einem Mann. Von tiefsten Seelennöten gepeinigt war hingegen eine Frau, die ihrer Mutter auf dem Sterbebett ein Versprechen gegeben hatte, das zu halten sie sich später außerstande sah. Der um Rat gebetene Seelsorger hatte auf das vierte Gebot verwiesen: Du sollst Vater und Mutter ehren. Ein konsultierter Psychologe hatte in zahlreichen Sitzungen einen tiefsitzenden Mutter-Tochter-Konflikt herausgearbeitet. Jetzt suchte sie Rat bei Melchers. Und der stellte die simple Frage: „Wer verpflichtet Sie?“ „Und genau diese Frage“, so erinnert sich der Philosoph, „löste bei der Frau einen Knoten auf. Sie gewann einen anderen Blick auf die Situation und fand einen Ausweg aus ihrem Dilemma.“ Gefragt, worin für ihn, Melchers, den „Freund der Weisheit“, der Sinn des Lebens liege, ant-wortet er mit einem zuckenden Lächeln um die Mundwinkel: „Genau darin, diese Frage auf-recht zu erhalten.“ |
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