Sinn auf Rädern. Philosophen bieten Orientierung im Alltag und verdienen so ihr Geld. Von Walter Schmidt Markus Melchers ist Kurier. Wenn bei ihm in Bonn das Telefon klingelt, will der Anrufer allerdings nicht Pizza bestellen, sondern geistiges Futter. Ein Elternpaar möchte wissen, welche Werte es seinen Kindern vermitteln, ein anderes, ob es sein Kind taufen soll. Oder eine Akademikerin fragt sich, ob zwei Staaten einander moralisch genauso verpflichtet sind wie zwei Menschen. Wenn Melchers glaubt, er könne helfen, schwingt er sich auf sein Rad und besucht den Kunden zu Hause. Oder spaziert mit ihm am Rhein entlang und setzt die Gedanken gehend in Fluss.
"Philosophie findet nicht zwischen den Ohren statt, sondern dort, wo Menschen miteinander sprechen", sagt der pfiffige Sinn-Kurier. Wobei ein philosophisches Gespräch freilich kein Geplapper sei, sondern ein gewisses Niveau haben müsse.
Der 36-jährige ausgebildete Philosoph bietet seit Anfang 1998 "Sinn auf Rädern" an. Melchers will damit ein Manko beseitigen helfen, das ihn schon an der Uni geärgert hat: "Philosophen reflektieren gern über das, was schon vor tausend Jahren gedacht worden ist, brechen es aber nicht auf unsere Zeit herunter."
Melchers vermisst den Bezug zum richtigen Leben, den in der Antike Philosophen wie Aristoteles in ihren öffentlichen Debatten routiniert hergestellt haben und womit sie ihre Zeitgenossen oft verblüfften. Eine solche Reaktion freilich erziele nur, wer verständlich reden könne und nicht in erster Linie versuche, "seine Zugehörigkeit zur Zunft der Philosophieprofessoren zu beweisen", wie der Philosoph Joachim Jung kritisiert.
Die Frage, wie man sich als Philosoph heute noch unentbehrlich machen kann, dürfte auch die rund 22 600 Studenten des Fachs beschäftigen. Allein im Wintersemester 1997/98 haben nach Auskunft der Hochschulrektorenkonferenz fast 7300 Philosophiestudenten ihre Prüfung absolviert. Nach Angaben der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie stehen ihnen aber nur etwa 2500 Stellen auf dem klassischen Arbeitsmarkt gegenüber, also an Universitäten und Schulen.
Wer nicht als Taxifahrer oder, laut Melchers, als "billiger Lektor bei einem Verlag" sein Brot verdienen möchte, muss sich also etwas überlegen. Melchers glaubt an seine Idee, auch wenn sie ihn noch nicht ernährt. Denn bislang ruft erst eine Hand voll Sinnsucher pro Monat an, und nicht mit jedem trifft er sich, schon gar nicht mehrmals. Das Honorar vereinbart er frei. "Ich frage meine Kunden, was ihnen das Gespräch wert ist", sagt der radelnde Philosoph.
Um sein Konzept bekannter zu machen, veranstaltet er jeden Monat ein "Philosophisches Café" in Bonn, bei dem es um Fragen wie "Wann darf ich lügen?" geht oder im tristen November um "Langeweile". Nach der Debatte kreist der Klingelbeutel.
Melchers sieht sich dabei nicht als Therapeut: "Heilen kann ich nicht." Er lehnt weitere Gespräche ab, "wenn das Problem ins Pathologische geht", der Kunde wirr redet oder bedenklich aggressiv ist. "Einsichtsfähig muss der Mensch zum Philosophieren schon sein."
Mehr Philosophie statt Psychologie im Leben der Menschen wünscht sich auch Gerd Achenbach. Er hat bereits 1981 das Konzept der "Philosophischen Praxis" begründet und führt selbst eine in Bergisch-Gladbach bei Köln. Mittlerweile gibt es in Deutschland knapp fünfzig Philosophen mit eigener Beratungs- praxis. "Die meisten Probleme handeln sich Menschen nicht durch seelische Defekte ein, sondern durch Hoffnungen, Erwartungen, Ansichten", sagt der promovierte Philosoph und Lebensberater. "Die Ehe etwa ist nicht in der Krise, weil die Menschen seelische Mängel hätten, sondern weil wir von der Ehe so denken, wie wir von ihr denken." Alle Psychologie sei an der Psyche des Einzelnen orientiert und bringe eher den "cleveren Egoisten" hervor. Freilich rate auch er manchen seiner Gesprächspartner, einen Therapeuten aufzusuchen, wenn ein Problem dort seiner Ansicht nach besser aufgehoben ist. Achenbach geht anders als Melchers nicht zu seinen Kunden hin, sie kommen zu ihm - für den Bonner "Sinn auf Rädern"-Lieferanten undenkbar, da so ein "Gefälle" zwischen Philosoph und Kunde entstehe, das seine Arbeit behindere. Dennoch findet er Achenbachs Idee "fantastisch", weil dieser die Philosophie "wieder näher an die Menschen gerückt" habe.
Von einem klassischen Verständnis der Philosophie kommend, bemüht sich Achenbach im Gespräch mit seinen Klienten "um ein gelingendes Leben". Viele seiner Kunden litten unter Problemen, die sie mit ihren Mitmenschen haben, oder sind "auf die falsche Lebensbahn geraten". Auffällig sei dies gerade bei Medizinern, "wo der Sohn Arzt geworden ist, weil Großvater und Vater das auch waren". Jetzt steckten die Doktoren "kreuzunglücklich in ihrem Beruf fest". Es geht in den Sitzungen eben auch darum, mutig eine neue Entscheidung zu fassen - so wie der hoch spezialisierte Ingenieur, der sich nach zig glücklosen Berufsjahren deprimiert und selbstmordgefährdet endlich entschloss, umzusatteln und Stuckateur zu werden. "Darauf kommen Menschen nicht alleine, dazu brauchen sie andere", urteilt Achenbach. In seiner Praxis geht es oft um Themen wie Tod und Alter. "Zu mir kommen alte Menschen, die über den Tod sprechen wollen, aber mit Gottes Bodenpersonal irreparabel entzweit sind", berichtet er. "Die trauen Priestern kein neutrales Urteil zu."
Für seine Dienste nimmt Achenbach - abhängig vom Einkommen des Kunden - pro Beratung zwischen 80 und 160 Mark. Neben den Einzelberatungen veranstaltet er Vorträge und philosophische Abende in seiner Praxis. Und Berufsberater laden ihn ein, um Gymnasiasten bei der Berufswahl zu unterstützen. Natürlich gebe es Kritiker seines Praxis-Ansatzes, gerade unter Philosophen. Achenbach spart schließlich nicht mit Spott über die Hochschulphilosophie und manche Professoren. Diese würden oft so verquast formulieren, dass - wollten sie mit einem Laien philosophieren - sie "diesem sogar noch Geld bezahlen müssten, damit er ihnen überhaupt zuhört und die Tortur erträgt".
Inzwischen gebe es allerdings auch viel Unterstützung für seinen Ansatz. Die Allgemeine Gesellschaft für Philosophie weise zwar die pauschale Kritik an den Philosophiedozenten zurück, überlege aber laut Achenbach, wie man die Lehrpläne für den Ansatz der Philoso-phischen Praxis öffnen könnte. Allein schon, um die Jobchancen der Uni-Absolventen zu verbessern.
Jobchancen sieht der Stuttgarter Philosophieprofessor und Geschäftsführer der Allgemeinen Gesellschaft, Christoph Hubig, aber noch ganz woanders. Die Absolventen seines Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie, Technik- und Kulturphilosophie würden ihm "aus den Händen gerissen". Viele große Firmen leisteten sich inzwischen nämlich "Spinnerecken" für Philosophen. Stabsabteilungen wie "Technik und Philosophie" seien keine Seltenheit mehr. Auch bei den Medien gebe es "einen großen Bedarf" an Philosophen, sofern diese ein zweites fachliches Standbein hätten, etwa als Juristen oder Bankkaufleute.
Achenbachs und Melchers Ansätze begrüßt Hubig, hält sie aber dennoch für eine "zwei-schneidige Sache". Schon Aristoteles habe das öffentliche Gespräch dem individuellen vor-gezogen. "Es soll ja ein Abgleich unterschiedlicher Meinungen und Werte stattfinden", gibt Hubig zu bedenken. Es gelte die Regel: "Je öffentlicher, desto philosophischer." |