Leben und Denken reflektieren, interpretieren und diskutieren 19.03.2024
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Zur Situation der Philosophie in Deutschland; parapluie No. 7 1999-2000

Zur Situation der Philosophie in Deutschland

Im Spätsommer letzten Jahres hat es eine Rede des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk (über gentechnische Perspektiven zur Erzeugung eines "humanitäreren Menschen") geschafft, das Interesse der Medien zu wecken, und damit die Philosophie, ganz ungewohnt, in den Blick der deutschen Öffentlichkeit gerückt.

Zeit, Spiegel u.a. berichteten wochenlang von der sogenannten 'Sloterdijk-Debatte'. Und noch immer erhitzt sie einige Gemüter, so daß die Zeit nach wie vor ihre Internet-Chatbox zum Thema geöffnet hält und man mich kürzlich sogar bei einem Besuch in Harvard, wo der aktuelle deutsche Philosophiebetrieb sonst mit Nichtachtung gestraft wird, auf Sloterdijks "Regeln für den Menschenpark" angesprochen hat. Doch was ist - in einer ersten Rückschau - denn tatsächlich von jener Debatte geblieben? Ohne die Wichtigkeit der Diskussion von Gentechnik und Wissenschaftsethik in Abrede stellen zu wollen, sei es gestattet, hier einmal von Inhalten abzusehen. Denn dann scheint die ganze Affäre doch v. a. für eines symptomatisch zu sein: für die Situation der Philosophie als akademische Wissenschaft besonders in Deutschland.

In Zeiten, in denen die Philosophie vor allem zur Philosophiegeschichte geworden ist, welche wiederum zu einer Art 'Geistesarchäologie' degeneriert, für die die Texte der philosophischen Tradition zuerst penibel in ihren Kontexten rekonstruiert werden müssen, anstatt ihren Sinn darin sehen zu können, daß sie zu eigenem Denken anregen sollten - in diesen Zeiten müssen Leute, die eigentlich wenig zu sagen haben, das aber hinter mediengerecht exzentrischem Gehabe zu verbergen wissen, zu 'Philosophen-Stars' werden.

In Zeiten, in denen sich die Mehrheit der akademischen Philosophen mit Sekundärproblemen beschäftigt; in Zeiten, in denen der - gerade aus Deutschland weltweit berüchtigte - pseudowissenschaftliche Stil geschraubter Unverständlichkeit und die Kenntnis sämtlicher 'Literatur' zu einem Detailproblem wichtiger zu sein scheinen als eine originelle Idee (so daß wir bald wahrscheinlich den hunderttausendsten Artikel zu den möglichen Nebenbedeutungen eines hinterwichtigen griechischen Wortes in Aristoteles' Metaphysik feiern dürfen) - in diesen Zeiten müssen Leute als interessant auffallen, die etwa Schwarz und Hut oder lange Haare tragen, um sich als Philosophen zu kennzeichnen. - Und zurecht! Denn immerhin heben sie sich so noch wohltuend ab von der Blutleere vieler ihrer Zunftgenossen.

In diesem Sinn kann das wirklich Gute an der 'Sloterdijk-Debatte' darin liegen, daß sie - zumindest vorübergehend - Leben in die philosophischen Archive gebracht hat. Aber darf das alles sein? Die Reaktionen der Mehrzahl der akademischen Philosophen in Deutschland auf den 'Nestbeschmutzer' waren eindeutig: Öffentlichkeit schadet; es galt, den sloterdijkschen "Blitz" (Sloterdijk) möglichst schnell in eine Rückkehr zu den "wirklich relevanten Problemen" (Prof. J. Mittelstraß, Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland) abzuleiten. Doch: Könnte und sollte die Philosophie nicht vielmehr die Chance nutzen, die sich durch die mediale Aufmerksamkeit ergeben hat? Sie sollte. Und zwar, solange es noch nicht zu spät ist.

Nachdem die Philosophie gerade in Deutschland so lange die Öffentlichkeit gescheut hat, wäre es an der Zeit, ihre Rolle grundlegend zu überdenken und weiter 'von sich reden zu machen'. Es wäre an der Zeit, die selbstgewählte Isolation des Elfenbeinturms gelehrter Wissenschaftlichkeit zu verlassen, sich einzumischen und - zum Wohle der Gesellschaft - zu zeigen, daß die Fragen, die sie seit Jahrhunderten zu ihrem Thema macht, tatsächlich alle angehen. Was hindert denn die akademische Philosophie daran, wie z.B. die Naturwissenschaften Breitenwirkung in populären Wissenschaftsmagazinen zu suchen, anstatt sich weitgehend nur in apokryphen Fachzeitschriften zu äußern?

Ist es die Angst vor mangelnder Ernsthaftigkeit, vor Simplifizierung? Aber viele der Grundprobleme der Philosophie sind in der Tat viel einfacher (wenn nicht zu beantworten, so doch auszudrücken), als es die 'Erklärungen' der akademischen Sekundärliteratur erscheinen lassen. Hier gibt man sich viel zu oft damit zufrieden, in den 'Hamsterkäfig' eines Systems gefunden zu haben, und beteiligt sich eifrig am Drehen des Laufrads, anstatt sich darum zu bemühen, die Grundfragen des Seins wirklich einsichtig zu machen. Philosophie entsteht ihrem Wesen nach aus 'Kinderfragen' (Was ist das? Was soll das? Wer, wozu und woher bin ich? Was will ich? etc.), zu denen jeder Mensch mit seinem "natürlichen Verstand" (Kant) Zugang haben sollte.

Da wäre es an der Zeit zu zeigen, daß die Philosophie auch über eingeweihte Fachkreise hinaus etwas zu sagen hätte und daß ihre Antworten in allen Bereichen des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens höchst relevant sein könnten. Ein solches Bemühen wäre zugleich eine Rückkehr zu den Anfängen in den griechischen Schulen, wo philosophische Weisheit Lebensweisheit war; wo Philosophie kaum enthoben-theoretische Fachwissenschaft meinte, sondern immer ans Leben rückgebunden blieb, und umgekehrt der Einzelne in der Philosophie nach Hilfe für je sein Leben suchen konnte.

Wenn mit Initiativen wie der des Bonners M. Melchers, der mit seinem Sinn auf Rädern philosophische Hausbesuche anbietet, oder auch mit den Diensten der 'philosophischen Lebensberatungs-Praxen' (G. Achenbach u.a.) seit jüngster Zeit nun auch in Deutschland praktischer orientierte Zweige der Philosophie ihre Nischen zu finden scheinen (Die Zeit 45/1999, 81f.), so ist das allenfalls ein bescheidener Anfang.

Vielmehr müßte es auch den akademischen Philosophen daran gelegen sein, öffentlich gehört zu werden und einen -- höchst berechtigten -- Anspruch auf Einfluß geltend zu machen. Gerade das Wissen darum, wie die größten Denker die Grundfragen des Daseins angingen, müßte endlich für heutige Probleme fruchtbar gemacht werden. Und gerade die Weisheit philosophischer Distanz darf nicht länger meinen, sich aus allem Weltgeschehen heraus halten zu können (oder gar heraus halten zu müssen), sondern wird als kritisches Korrektiv unserer oftmals unkritischen Gesellschaft dringend benötigt.

Warum sollte es dann nicht auch in Deutschland möglich und sogar normal werden, daß - wie in den USA -- Unternehmen 'ihren Philosophen' einstellen, daß sich die führenden akademischen Philosophen - wie in Italien u.a. E. Severino und D. Zolo - im Fernsehen Schülerfragen stellen (in Deutschland hat die 'Sloterdijk-Debatte' immerhin dafür gesorgt, daß live eine Extra-Diskussions-Sendung zu sehen war - um 0 Uhr im ZDF!) und daß schließlich die Philosophie auch in der Politik mitzusprechen hätte - so, wie von Frankreich her immer noch die eindrücklichen Bilder geläufig sind, in denen sich ein alternder Präsident F. Mitterand die Hinterhoftreppen zu dem greisen Philosophen J. Guitton hinauf mühte, um nicht nur Gott, sondern auch die Welt zu diskutieren und sich Rat zu holen für sein Tagesgeschäft?                                                                                                                                                           
Christian Goebel
parapluie (elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen)  No. 7 1999 / 2000

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